Das Konzept der Orgel ist uralt. Ihr Klangprinzip – Druckluft, ursprünglich durch eine Wassersäule erzeugt, bringt Holz- und Metallpfeifen zum Tönen – erblickte als "Hydraulis" oder "Organon" in der griechisch-römischen Antike das Licht der Welt und steht somit an der Wiege der europäischen Kultur. Das Konzept Orgel hat sich seit dieser Zeit bewahrt, bewährt und erneuert zugleich.
Nach Jahrzehnten der Rückbesinnung auf historische Orgelmodelle, der Orientierung an Klangidealen der Vergangenheit, zeichnet sich nun ein neuer Aufbruch ab. Der Begriff der "Hyperorgel", geprägt vom amerikanischen Organisten und Musikologen Randall Harlow, macht in jüngster Zeit verstärkt die Runde. Das klingt modern, nach Grenzüberschreitung und will so gar nicht zum verstaubten Image passen, dass viele Zeitgenossen schnell im Kopf haben, wenn von Orgeln die Rede ist.
Bei der "Hyperorgel" geht es wirklich um Innovation – technologisch, klanglich und musikalisch. Getrieben wird die Entwicklung von Visionären, die über den seit Langem verbreiteten Historismus hinausblicken. Solche Geister gab es vereinzelt auch früher schon. Etwa die Organisten/Komponisten Peter Bares in Köln und Werner Jacob in Nürnberg, die ihre Instrumente bereits in den 1970er-Jahren mit variablen Winddruckreglern, Tastenfessel, zusätzlichen Obertonregistern und Klangquellen wie etwa Schlagwerk ausstatteten.
"Lebendiger Wind" und Vierteltöne
Galt eine stabile Wind- und damit Tonerzeugung lange als das Ideal im Orgelbau, so entwickelten Musiker, ausgehend von ihren Erfahrungen an historischen Instrumenten, in den letzten Jahrzehnten die Sehnsucht nach einem wieder "lebendigen Wind", der die Statik des Orgelklangs überwinden hilft. Diese Sehnsucht erheben Orgelneubauten wie der in der Martinskirche Kassel (2017/21) zum Prinzip: Dort installierte die Firma Rieger variablen Winddruck in allen Werken und überdies ein vierteltöniges Manual – ebenfalls eine Idee, die Musiker seit langer Zeit verfolgen. Solche Instrumente inspirieren, neue Klangwelten auszuloten in Komposition und Improvisation.
Nun tritt die Elektronik als weitere Komponente hinzu. Mit Einzeltonansteuerung wird die tradierte Werkeinteilung überwunden: Jede Pfeife kann jetzt von jeder Taste aus angespielt werden, was die Möglichkeiten bei der Synthese von Klängen enorm erweitert. Mittels digitaler Schnittstellen können andere Instrumente und Computer angebunden werden, die die Steuerung übernehmen.
Mehrere Instrumente über Internet verbunden
Das macht die "Hyperorgel" auch für Nicht-Organisten interessant, inspiriert Musiker, die aus ganz anderen Kontexten kommen. Die bei solchen Begegnungen entstehenden neuen Stücke, die etwa beim Berliner Aggregate Festival präsentiert werden, bewegen sich weit weg von dem, was bisher auf einer Orgel erklang und sind oft äußerst anregend.
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Das System des Open Sound Control (OSC), das die bisher verbreiteten MIDI-Standards nach und nach ersetzt, ermöglicht, die Orgel via Internet auch von einem weit entfernten Ort aus in Echtzeit zum Klingen zu bringen. OSC ist auch ein wesentlicher Bestandteil des Instruments, das derzeit an der Musikhochschule Würzburg entsteht und bald zum Netzwerk der bisher existierenden "Hyperorgeln" in Ratingen, Düsseldorf, Dortmund, Amsterdam und Malmö hinzutreten soll. Denn die Vernetzung ist eine Kernidee der innovativen Orgel-Konzepte. Mehrere Instrumente schließen sich über Länder und Kontinente hinweg zusammen und bilden neue musikalische Einheiten.
Orgelprofessor Christoph Bossert hat bereits das Konzept für die Konzertsaalorgel der Firma Klais entwickelt, die 2016 in Betrieb genommen wurde und nun zur "Hyperorgel" erweitert wird. "Die Zahl der mit dieser Technik ausgestatteten Instrumente wird wachsen", ist er überzeugt. Neben neuen Konzertformaten – der Organist in den USA, der via OSC die Würzburger Orgel in Echtzeit bespielen kann – hat er vor allem auch die pädagogische Nutzung im Blick. Etwa bei Meisterkursen mit Studierenden und Dozenten an verschiedenen Orten, die mit OSC und Videoschalte verknüpft sind.
Töne modellieren
Neben der Elektronik erhält die Orgel auch 21 neue Register, zusätzlich zu den 45 bereits vorhandenen. Damit kommt das Instrument am Ende auf gut 5000 Pfeifen. Die hinzukommenden Klangfarben – vom ätherischen Streicher bis hin zur kräftigen Zungenstimme – erweitern die Darstellungsmöglichkeiten auf der Würzburger Orgel, die sich in ihrer Grundsubstanz an einem spätbarocken Instrument der Bachzeit orientiert, in Richtung Spätromantik und Moderne. "Ein glaubhaft großer Radius und trotzdem eine pointierte stilistische Prägung", so formuliert Bossert das Ziel der Orgelkonzeption.
Eine Besonderheit liegt in der Spieltraktur, der Verbindung von der Taste zur Pfeife. Die Würzburger Orgel ist in Teilen mit Kegelladen ausgestattet. Im Unterschied zur gebräuchlichen Schleiflade, bei der sich das Pfeifenventil nach Überwinden eines Druckpunkts schlagartig öffnet, erlaubt die Kegellade, die im 19. Jahrhundert vor allem in Süddeutschland gebaut wurde, die allmähliche Öffnung des Ventils und somit eine viel sensiblere Modellierung des Orgeltons beim Bewegen der Taste. Auch hier wird die oft beklagte Starre des Orgelklangs durch "lebendigen Wind" aufgebrochen, der Zuwachs an musikalischen Möglichkeiten ist beachtlich.
Technik und Kunst treffen sich
Großer Nachteil hingegen: der Tastendruck nimmt mit Anzahl der gezogenen Register zu und die Orgel wird irgendwann unspielbar. In Würzburg löst man dieses Problem, indem die Kegellade mit speziellen Elektromagneten gesteuert wird. "Diese Technik ist sehr teuer und kostet auch Platz", erklärt Bossert. Weshalb nicht alle Register auf solchen Laden stehen können. 1,2 Millionen wird der Ausbau zur "Hyperorgel", der bis Jahresende abgeschlossen sein soll, kosten. 780.000 Euro übernimmt das Land Bayern, den Rest die Hochschule.
Doch der ambitionierte Orgelbau soll nicht allein stehen bleiben. Die "Hyperorgel" wird eingebunden in ein passendes künstlerisch-wissenschaftliches Umfeld. Finanziert durch Mittel der Hightech-Agenda Bayern wurde die Professur "Orgelkunst, Kreativitätskonzepte und künstliche Intelligenz" eingerichtet. Hier kooperiert die Musikhochschule mit der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, und es soll darum gehen, die Wechselwirkungen von künstlerischen Prozessen und technischer Entwicklung weiter zu erforschen.
Zwischen der Robotik und seinem Instrument sieht Christoph Bossert eine starke Verbindung: Ob Orgel oder Künstliche Intelligenz, "es geht um Maschinen, denen eine gewisse Starrheit eigen ist. Und um die Frage, wie man Prozesse – künstlerische wie wissenschaftlich-technische – flexibilisieren und dynamisieren kann".
Zum Gesamtpaket an der Hochschule gehören auch ein Weiterbildungsprogramm für Orgelbauer und Organisten sowie das aus Drittmitteln finanzierte Projekt "Digitalisierung, Vermittlung und Vernetzung in der Lehre der internationalen Orgelkunst": Auf einer Website wird Wissen zu Instrumentengeschichte, Orgelbau, Interpretationskunst und Hermeneutik gebündelt und unter anderem in regelmäßig produzierten Lehrvideos allgemein zugänglich gemacht. Für Christoph Bossert "ein Stück Zukunftssicherung" in Krisenzeiten für die Kirchen und damit auch für den Organistenberuf. "Wir beteiligen uns an aktuellen Diskursen, emanzipieren uns und begegnen dadurch der Gefahr, irgendwann in einer Nische festzusitzen."