Wer ist schuld an der Eurokrise?

Wer hat hier was ausgefressen? Wer ist schuld an der Schuldenkrise?
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Wer hat hier was ausgefressen? Wer ist schuld an der Schuldenkrise?
Wer ist schuld an der Eurokrise?
Eine Analyse zu den Ursachen und Hintergründen der europäischen Schuldenkrise
Im Schwerpunkt "Die Eurokrise und wir" beleuchtet evangelisch.de unterschiedliche Ursachen, Folgen und Teilaspekte der momentanen Wirtschafts- und Finanzkrise und mögliche Wege aus ihr. Im Gastbeitrag untersucht der Ökonom Dr. Andreas Mayert, wer eigentlich die Hauptschuld an der momentanen Misere trägt und wo - jenseits aller politischen Grabenkämpfe - die wirklichen Verursacher zu suchen sind. Seine These: Zu wenig Europa ist der Grund!

Will man die Frage beantworten, wer Schuld an der Entstehung und Dauerhaftigkeit der Euro-Schuldenkrise ist, wird man vor ein Dilemma gestellt. Denn wenn es seit Beginn der Krise an einem nicht gemangelt hat, dann an Schuldzuweisungen. Warum sich an diesem Spiel beteiligen? Zur gleichen Zeit ist die Suche nach den Gründen der Schuldenkrise nicht nur thematisch, sondern auch in ihrer Bedeutung alles andere als trivial. Ohne eine zutreffende Ursachendiagnose der krisenhaften Entwicklung seit dem Frühjahr 2010 muss jede Maßnahme zur Milderung oder Beendigung der Schuldenkrise an ihrer Herausforderung scheitern. Aber bei wem oder was lässt sich Schuld eindeutig verorten?

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Die öffentliche Wahrnehmung scheint zu sein, dass die Schuldenkrise in erster Linie durch ausufernde Staatsdefizite und den wiederholten Bruch der Konvergenzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entstanden ist. Den Schuldenstaaten müsse dieser Interpretation nach vorgeworfen werden, sie hätten nicht solide genug gewirtschaftet. Sie seien daher in erster Linie selbst an ihrer Situation schuld. Mit Ausnahme von Griechenland war Auslöser drohender Staatsinsolvenzen allerdings nicht mangelnde Haushaltsdisziplin. Die fiskalische Situation der Krisenstaaten war bei Ausbruch der Schuldenkrise sehr unterschiedlich. Spanien und Irland etwa galten vor wenigen Jahren noch als Musterschüler der Währungsunion mit Haushaltsüberschüssen und relativ geringen Staatsschuldenquoten. Die hohen Haushaltsdefizite nach Ausbruch der Finanzmarktkrise waren eher Symptom als Ursache der Fehlentwicklungen.

Vier Entwicklungen, die maßgeblich sind für die europäische Schuldenkrise

Gräbt man etwas tiefer, fallen vier Entwicklungen ins Auge, die maßgeblichen Einfluss auf Entstehung und Verlauf der Schuldenkrise hatten.

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Erstens verzeichneten alle Krisenstaaten vor Ausbruch der Schuldenkrise im europäischen Vergleich hohe Lohnwachstumsraten und verloren im gleichen Ausmaß an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Zudem wiesen sie vor Ausbruch der Schuldenkrise dauerhaft hohe Leistungsbilanzdefizite auf, die durch Kapitalzuflüsse aus den europäischen Kernstaaten finanziert wurden. Beide Entwicklungen waren miteinander verbunden, denn erst der kreditgetriebene Boom ermöglichte die Einkommenssteigerungen. Die Neueinschätzung von Kreditrisiken im Schlepptau der Finanzmarktkrise beendete dieses Geschäftsmodell und führte zu einer tiefen Wirtschaftskrise. Aber wer war daran schuld, die Gläubiger- oder die Schuldenstaaten? Da sowohl Kapitalflüsse als auch Lohnabschlüsse größtenteils Ergebnis privater Vereinbarungen waren, sind Schuldzuweisungen an einzelne Staaten hier nicht möglich. Vielmehr lagen auf den Märkten Koordinierungsdefizite vor, die zwei Ursachen hatten: Zum einen gravierende Fehleinschätzungen der Finanzmarktakteure. Zum anderen fehlende Institutionen und Regeln auf Ebene der Währungsunion, die wirtschaftliche Ungleichgewichte beobachten und, wenn nötig, gegensteuernde Maßnahmen hätten initiieren können. Statt von Schuld kann hier eigentlich nur von kollektivem Versagen auf allen Seiten gesprochen werden.

Zweitens zeigte sich nach Ausbruch der Finanzmarktkrise, dass die fiskalische Stabilität der Eurostaaten nicht allein durch unsolide Haushaltspolitik gefährdet werden kann. Ein weiterer Risikofaktor ist, dass Staaten in Finanzkrisen weitestgehend gezwungen sind, unter erheblichen Kosten als Retter ihrer Banken aufzutreten. Wie ein einzelner Eurostaat mit dieser Herausforderung umgeht, betrifft aber in einer finanziell hoch integrierten Währungsunion die Stabilität der Banken aller anderen Mitgliedsstaaten. Das im hohen Maße gemeinschaftliche Risiko hätte daher eine gemeinsame Beaufsichtigung des Finanzsektors erfordert und auf dieser Grundlage auch ein gemeinsames Rettungs- bzw. Abwicklungsregime für angeschlagene Eurobanken. Stattdessen musste nach Ausbruch der Finanzkrise jeder Staat allein seine Banken retten, was einige Euroländer überforderte. Im nächsten Schritt mussten diese Staaten dann gemeinschaftlich gerettet werden, damit nicht weitere Staaten in den Abwärtsstrudel gerissen werden. Warum nicht gleich eine gemeinsame Rettung der Banken? Warum der Zwischenschritt eines zunächst nationalen Rettungsregimes? Dieses Vorgehen war unnötig, verschärfte und verlängerte die Krise und zerstörte das Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit der Krisenstaaten so nachhaltig, dass sie sich lange nicht davon erholen werden. Auch an dieser Stelle muss wohl von kollektivem Versagen gesprochen werden. Denn letztlich waren alle Eurostaaten nicht bereit, die nationale Souveränität über die Finanzmarktaufsicht abzugeben – und sind es bis heute nicht.

Problemfall Europäische Zentralbank

###mehr-info###Nachdem die Schuldenkrise in Griechenland ihren Anfang genommen hatte, zeigte sich drittens ein erhebliches Ansteckungsrisiko der Eurostaaten untereinander, das nicht allein auf ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten, sondern auch auf ihrer Mitgliedschaft in der Währungsunion beruhte. Denn durch die Abgabe der währungspolitischen Zuständigkeit an die EZB waren sie in hohem Maße anfällig für Staatsschuldenkrisen geworden. Staaten mit souveränen Zentralbanken, die in eigener Währung verschuldet sind, können eine Staatsinsolvenz grundsätzlich immer abwenden, indem die Notenbank Staatsanleihen aufnimmt. Für Mitgliedsstaaten der Währungsunion war das nicht möglich – und der EZB ist die Monetarisierung von Staatsdefiziten verboten. Diese Regelung ist zur Sicherung einer stabilen Währung wohlbegründet. Den Preis des daraus resultierend höheren Ausfallrisikos staatlicher Schuldtitel mussten jedoch die Krisenstaaten in Form höherer Risikoprämien zahlen. Sie gerieten dadurch in einen ungesunden Kreislauf. Denn höhere Risikoprämien bedeuteten höhere Kreditkosten und ein noch höheres Haushaltsdefizit. Dadurch wurde ihre Schuldentragfähigkeit noch mehr in Frage gestellt, was erneut die Risikoprämien erhöhte. Zu den steigenden Kreditkosten gesellte sich mit der Zeit das Problem, dass eine geordnete Refinanzierung am Kapitalmarkt zunehmend nicht mehr möglich war. Staatsinsolvenzen konnten schließlich nur über die Europäischen Rettungsschirme verhindert werden. Hätte es von Beginn an für Eurostaaten einen solchen 'Kreditgeber der letzten Instanz' gegeben, wäre die Krise wesentlich milder verlaufen. Dass es an einer solchen Institution fehlte, liegt in gemeinschaftlicher Verantwortung. Einzelne Schuldige lassen sich hier nicht identifizieren.

Viertens wurde die Schuldenkrise durch eine europäische Politik verschärft, der es nicht gelungen ist, das Vertrauen in die Stabilität der Währungsunion wiederherzustellen. Als problematisch erwies sich dabei, dass zur gleichen Zeit stets zwei Ziele verfolgt wurden. Zum einen sollte ein Auseinanderbrechen der Eurozone wenn möglich verhindert werden. Zum anderen sollten die Krisenstaaten durch die Drohkulisse eines möglichen Ausschlusses aus der Währungsunion zur Vornahme von Sparprogrammen und Strukturreformen gezwungen werden. Damit wurde aber nicht nur die Hilfe für die Krisenstaaten an strikte Konditionalitäten gebunden. Auch die Integrität der gesamten Währungsunion wurde fortwährend zur Disposition gestellt. Für Spekulanten musste dieses Vorgehen wie die Einladung zu einem Festbankett wirken. Darüberhinaus zeigten die durchaus vorhandenen Spar- und Reformanstrengungen der Krisenstaaten nicht die erhoffte Wirkung einer langsamen Überwindung der Wirtschaftskrise. Die erzwungene Austeritätspolitik hatte im Gegenteil das – wenig überraschende – Ergebnis, dass die Krisenstaaten immer tiefer in die Rezession rutschten. Jede Sparanstrengung wurde durch wegbrechende Staatseinnahmen, höhere Sozialausgaben und die Verringerung des Nenners der Staatsschuldenquote – des Bruttoinlandproduktes – zunichte gemacht. Die Schuldenquoten stiegen weiter an, die Sparpolitik schlug sich selbst. Wie mit dieser Politik das Vertrauen von Investoren zurückgewonnen werden soll, wird noch künftige Generationen vor ein Rätsel stellen. Die Verantwortung für diese katastrophale Politik tragen alle Eurostaaten.

Die Schuldenkrise ist keine Naturkatastrophe

###mehr-links###Wer trägt somit Schuld an der Schuldenkrise? Einzelne Schuldige lassen sich nicht finden. Eine Naturkatastrophe ist die Schuldenkrise dennoch nicht. Vielmehr trifft die Schuld – wenn man es so nennen will – die gesamte Staatengemeinschaft.  Die Konstrukteure des Euro hatten angenommen, dass die politische Einigung Europas durch die gemeinsame Währung vorangetrieben würde. Eine gemeinsame Währung, so war der Gedanke, wird die in der Eurozone zusammengeschlossenen Staaten zu einer Koordinierung ihrer Politik zwingen. Nationalstaatliche Egoismen sollten durch die schlichte Notwendigkeit einer zunehmend stärkeren Zusammenarbeit überwunden werden – denn nur so kann der Euro funktionieren. Dieses Ergebnis trat nicht ein. Nach Einführung des Euro waren die Mitgliedsstaaten zu einer Vertiefung der politischen Integration und zur weiteren Abgabe von Souveränitätsrechten nicht mehr bereit. Wie sich gezeigt hat, war das keine gute Entscheidung.