"Soziale Medien können keine Revolutionen auslösen"

Foto: PANOS/VISUM/Espen Rasmussen
Facebook-Graffiti auf einer Wand in Kairo.
"Soziale Medien können keine Revolutionen auslösen"
Der Arabische Frühling hat die politischen Machtverhältnisse nicht nur in Tunesien und Ägypten verändert. Das Internet und die Sozialen Medien spielten dabei eine wichtige Rolle. Doch in Syrien reicht nun ihre Macht nicht aus. Deshalb ist der Arabische Frühling keine "Twitter- oder Facebook-Revolution" gewesen, sagt Prof. Dr. Marianne Kneuer von der Stiftung Universität Hildesheim im evangelisch.de-Internview.

Frau Prof. Dr. Kneuer, die sozialen Medien haben einen großen Einfluss auf die Entwicklungen des "Arabischen Frühling" gehabt - wieso war es Ihrer Meinung nach dennoch keine "Twitter- oder Facebook-Revolution"?

Marianne Kneuer: Revolutionen bedürfen immer wieder einer Bewegung, die ein bestehendes System stürzen will und einer Regierung oder Systemelite, die dann am Ende auch zurückweicht vor dieser Bewegung. Wir haben im Zuge des Arabischen Frühlings in Tunesien und Ägypten gesehen, dass tatsächlich die Systemelite zurückgewichen ist. Aber wir haben auch andere Revolutionen erlebt, wie die Grüne Revolution im Iran, bei der auch das Internet und Soziale Medien eingesetzt wurden. Aber zum Sturz der Regierung ist es nicht gekommen. Und in Syrien sehen wir jetzt die gleiche Situation.

###mehr-personen###

Dort werden zurzeit genauso intensiv Soziale Medien und das Internet eingesetzt wie in Tunesien und Ägypten. Trotzdem weicht die Systemelite nicht zurück. Das heißt also, Revolutionen hängen von mehreren Faktoren ab, und das sind nicht nur die Sozialen Medien und das Netz. Meiner Ansicht nach können sie keine Revolutionen auslösen oder Demokratisierung aus sich selbst heraus erzeugen.

Sie sind eine Plattform, ein Kanal, über den Botschaften transportiert werden können. Dennoch haben die Sozialen Medien und das Internet im Arabischen Frühling vor allem zwei Dinge geleistet. Erstens haben sie zur Mobilisierung der Bürger beigetragen. Zweitens haben sie tatsächlich geholfen, den Prozess schneller und präziser zu organisieren. Das können soziale Medien auch in anderen Ländern leisten, aber ob es dann zu einem Sturz der Diktatur kommt, das hängt eben von anderen Faktoren ab.

"Die Schnelligkeit des Internets kann Politiker auch unter Druck setzen"

Können denn soziale Netzwerke und Internet die Politik maßgeblich beeinflussen?

Kneuer: Wenn wir von Politik sprechen, müssen wir natürlich noch mal unterscheiden zwischen etablierten Demokratien, wie in Deutschland, und eben Autokratien oder auch Transformationsländern. Wenn wir von Deutschland ausgehen, denke ich, dass das Internet dort einen Einfluss hat - das drücke ich bewusst sehr neutral aus. Denn meiner Meinung nach ist das Internet ein neutrales Medium. Das heißt, es kann sowohl positive wie auch negative Wirkungen haben. Zu den Merkmalen des Internets gehört, dass es eine größere Transparenz erzeugt, dass es den Informationsfluss beschleunigt, dass es interaktiv ist, also Menschen also schneller miteinander und in Echtzeit kommunizieren können.

Diese Merkmale haben konkrete Auswirkungen auf politische Zusammenhänge. Beim Stichwort Transparenz zeigt sich, Bürger haben mehr Zugang zu Information, aber sie können auch davon überfordert sein und Schwierigkeiten haben, sich zu orientieren. Für die Politiker bedeutet mehr Transparenz, dass Vertraulichkeit verloren geht. Diese kann gerade bei Absprachen zwischen Politikern sehr wichtig sein.

Foto: Bruno Amsellem/Signatures/laif

Ein zweites Stichwort ist Beschleunigung: Informationen und Kommunikationsprozesse laufen schneller und grenzüberschreitend ab. Dadurch können positive Effekte entstehen, wie im Arabischen Frühling. Aber die Schnelligkeit des Internets kann Politiker auch unter Druck setzen. Sie fühlen sich gefordert, schneller auf Stimmungen, Ereignisse zu reagieren oder sogar zu entscheiden. Politik ist aber ein Geschäft, das Reflexion braucht und manchmal auch die Langsamkeit von Entscheidungsprozessen beinhaltet.

Ein weiteres Merkmal ist die Interaktivität, bei der Bürger und Politiker in der Tat direkt miteinander kommunizieren können. Dies kann wiederum bedeuten, dass der Politiker, der sich über Twitter oder ähnliche Kommunikationsmittel informiert, von der Stimmung des Bürgers eigentlich nur einen Ausschnitt sieht. Denn er kommuniziert ja nicht mit der Gesamtbevölkerung. Es sind vor allem die jungen, gut ausgebildeten und männlichen Bürger, die das Internet nutzen. Das heißt überspitzt gesagt: Der Politiker könnte so ein sehr begrenztes Bild von der sogenannten Bürgermeinung oder der Stimmung in der Öffentlichkeit bekommen, wenn er sich nur auf die Kommunikation über Facebook oder Twitter verlässt.

"Das Internet ist ein Medium, in dem man keine Verantwortung übernehmen muss"

Wo sehen sie die Gefahrenpotentiale in Autokratien oder Diktaturen?

Kneuer: In Autokratien oder Diktaturen können Internet und Soziale Medien auf der einen Seite durchaus Druck ausüben, dass haben wir in Tunesien und Ägypten beobachten können. Andererseits ist es auch so, dass Diktatoren und Autokraten sich über die Vorteile des Internets sehr bewusst sind und diese nutzen. Sie stehen den demokratischen Netzprofis hinsichtlich ihres technischen Erfindungsreichtums in nichts nach. Wir wissen zum Beispiel von China, eine der führenden Mächte in Bezug auf die Kontrolle des Internets weltweit, dass dort subtile Filter und Zensursysteme entwickelt und eingesetzt werden.

###mehr-artikel###

Man beteiligt sich an der Netzkommunikation, indem man Leute ausbildet, die bei Facebook mitkommunizieren und entsprechend steuern oder im Netz nach Netzdissidenten fahnden. Autokraten können also das Internet sehr wohl als Kontrollinstrument nutzen.

Ein anderes Gefahrenpotential ist die Verantwortungsbefreiung, die das Internet bedeutet - gerade in etablierten Demokratien. Damit sind wir wieder in Deutschland oder auch in den USA. Das Internet ist ein Medium, in dem man keine Verantwortung mehr für das, was man sagt, übernehmen muss. Die Anonymität senkt die Hemmschwelle, Meinungen in das Netz zu geben und zu verbreiten, weil man nicht verantwortlich gemacht werden kann. Das ist sehr gut an dem Hetzvideo "Innocence of Muslims" zu beobachten. Es ist anonym ins Netz gestellt worden.

Sie haben es angesprochen: Sie sehen das Internet als neutral an und sprechen sich für einen Netzrealismus aus. Wie sieht dieser denn aus?

Kneuer: Mit Netzrealismus meine ich, dass wir als Wissenschaftler, die sich mit dem Arabischen Frühling und auch mit den etablierten Demokratien beschäftigen, dafür plädieren, nicht in eine Netzeuphorie zu verfallen, wie das teilweise bereits passiert ist. Nach dem Arabischen Frühling ist das Internet als eine Technologie der Freiheit bezeichnet worden. Aber auch ein Netzpessimismus ist nicht richtig. Es muss nicht alles verteufelt werden, was im Netz steht oder mit dem Netz gemacht wird. Vielmehr geht es darum, eine realistische Position dazu einzunehmen. Das heißt, die positiven und negativen Seiten des Internets zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und sich darauf einzustellen.

"Soziale Medien werden zu einseitig beurteilt und damit falsch eingeschätzt."

Wird das Internet einfach überschätzt?

Kneuer: Ich glaube, dass Überschätzen das falsche Wort ist. Soziale Medien werden vielmehr zu einseitig beurteilt und damit falsch eingeschätzt. Nach dem Arabischen Frühling war man zu optimistisch. Es wurde nur die Möglichkeit gesehen, Autokratien unter Druck zu setzen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Zurzeit sehen wir an dem Schmähvideo "Innocence of Muslims" eine andere Seite. Auch radikale Splittergruppen nutzen das Internet, in diesem Fall youtube, um ihre Botschaften zu verbreiten. Je nach dem was passiert, werden die Sozialen Medien und das Internet also nur einseitig wahrgenommen.

Autor:in
Keine Autoren gefunden

Aber meiner Meinung nach müssen wir uns darauf einstellen, dass wir es künftig öfter sowohl mit negativen als auch positiven Ereignissen zu tun haben werden. Um mit solchen Phänomenen umgehen zu können, wird ein netzrealistischer Ansatz gebraucht. So wird nicht der Fehler begangen, einmal das Internet zu verteufeln und es ein anderes Mal in den Himmel zu heben.