Als in einem See im Tiroler Ötztal die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, scheint es sich allerdings um Suizid zu handeln; erst die Obduktion ergibt, dass sie erwürgt worden ist, bevor sie mit Gewichten im Rucksack im Wasser entsorgt wurde. Für Lisa Kuen (Patricia Aulitzky) ist der Mord sehr zum Ärger ihres Mitarbeiters Yüsüf-Demir (Dominik Raneburger) ohnehin ein besonderer Fall. Da sie eigentlich in Urlaub ist, hat sich der Kollege schon gefreut, endlich seine erste eigene Ermittlung leiten zu dürfen, aber als Lisa vom Fund der Leiche hört, kommt sie umgehend zurück: Ihre sieben Jahre ältere Schwester Anna hat sich vor gut dreißig Jahren im selben See das Leben genommen, weshalb der Tod der jungen Frau sie sehr berührt; und da kann sie noch nicht mal annähernd ahnen, wie sehr ihre eigene Vergangenheit mit dem Schicksal der Toten verbunden ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diese Verknüpfung macht den speziellen Reiz der Geschichte aus, denn je tiefer Lisa sich in den Fall hineinarbeitet, desto näher rückt sie ihrer eigenen Biografie: Frieda (Lisa Stadler) hat auf eigene Rechnung in einem noblen Innsbrucker Bordell gearbeitet. Auf ihrer Kontaktliste finden sich diverse Honoratioren, darunter auch der Star-Trainer des örtlichen Fußballvereins, der nach vielen erfolgreichen Jahren in Deutschland in die Heimat zurückgekehrt ist. Zur großen Verblüffung der Kollegen handelt es sich bei Franz Kindl (Fritz Egger) um Lisas Vater. Er hat die Familie vor langer Zeit verlassen und jeden Kontakt abgebrochen. Eigentlich ist die Kommissarin damit wegen Befangenheit raus aus der Sache, zumal sich rausstellt, dass die als Kind adoptierte Frieda auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern kürzlich in Lisas Heimatdorf war und sogar mit ihrer Mutter gesprochen hat; aber nun verbeißt sich die vom Kollegen als "obsessiv" bezeichnete Ermittlerin erst recht in den Fall. Die Zeit, sagt der Pfarrer (Peter Mitterrutzner) während der Seelenmesse für Anna, "heilt alle Wunden, aber die Narben bleiben."
Das Drehbuch stammt von Eva Testor, die als Kamerafrau auch schon fürs deutsche Fernsehen gearbeitet hat ("Die Füchsin"). "Das Mädchen aus dem Bergsee" (ZDF-Premiere war 2021) ist nach dem Spielfilm "Tag und Nacht" (2009), der auch hierzulande in den Kinos lief, ihre zweite Arbeit als Autorin. Für die Bildgestaltung war sie ebenfalls verantwortlich. Tatsächlich liegt in der Optik die eigentliche handwerkliche Stärke des Films, denn die Umsetzung durch Mirjam Unger ist ziemlich spannungsarm; da war das deutsche Fernsehfilmdebüt der "Vorstadtweiber"-Regisseurin, die famos gespielte Tragikomödie "Alle Nadeln an der Tanne" (2020) über ein aus den Fugen geratendes fragiles Familiengefüge, von deutlich anderem Kaliber.
Hauptdarstellerin Aulitzky irritiert zudem durch ein mitunter betont kerniges Auftreten, als wolle sie ihre Rolle von der deutlich sanfteren Titelfigur aus der ZDF-Hebammenreihe "Lena Lorenz" abgrenzen, durch die sie zumindest hierzulande bekannt geworden ist (der zwanzigste "Landkrimi" ist eine Koproduktion von ORF und ZDF).
Umso kunstvoller ist vor allem die Gestaltung der Handlungsebene rund um den Bergsee. Die Rückblenden in Lisas Kindheit zeigen die Schwestern in neongelber Sommerkleidung am See; in der gleichen Farbe ist der Vorspann gehalten. Betörend schön sind auch die Bilder mit dem im Wasser versinkenden älteren Mädchen. In einem wiederkehrenden düsteren Alptraum sieht sich Lisa ebenfalls unter Wasser. Eine Eisschicht verhindert, dass sie auftauchen kann; oben drüber zeichnen sich die Füße eines Mannes ab. Gelungener farblicher Kontrast hierzu sind die Szenen mit Friedas bester Freundin und Kollegin, Tamara (Maresi Riegner). Die vornehmlich in Pink und Rot gekleidete junge Frau lenkt den Verdacht der Ermittler auf Friedas offenbar ziemlich eifersüchtigen und zudem vorbestraften Freund Hary (Fabian Schiffkorn); eine Verfolgung des Mannes durch die Uni Innsbruck ist eine der wenigen Szenen, in denen so etwas wie Spannung aufkommt.
Und so ist es in erster Linie die Geschichte, die "Das Mädchen aus dem Bergsee" zu einem sehenswerten Krimi macht, denn je mehr Antworten Lisa findet, desto mehr neue Fragen stellen sich. Mit zunehmender Dauer wandelt sich der Film ohnehin zu einem Familiendrama, bei dessen Niederschrift der Autorin der Roman-Polanski-Klassiker "Chinatown" (1974) als Inspiration gedient haben mag.