Wie erreicht Luisa Neubauer Generationen?

Luisa Neubauer
© epd-bild/Christian Ditsch
"Sagen, was ist! Die Klimakrise im Diskurs" war das Thema Luisa Neubauers einstündiger Rede an der Universität Tübingen (Archivbild). Autorin Annette Wagner war dort und hat die Ansprache analysiert.
Klima-Rede analysiert
Wie erreicht Luisa Neubauer Generationen?
Die Klimakatastrophe ist ein Problem, das alle Altersgruppen etwas angeht. Manchmal geht dies im öffentlichen Diskurs unter. Bei einer Rede an der Universität Tübingen hat Luisa Neubauer es geschafft, jüngere und ältere Zuhörer:innen zu erreichen. Wie? Annette Wagner berichtet.

Luisa Neubauer hatte sich gut überlegt, wie sie ihr akademisches Zielpublikum in Tübingen aktivieren, wie sie generationenübergreifend irritieren und aufrütteln kann - ohne diejenigen vor den Kopf zu stoßen, die sie für Ihre Sache gewinnen will. "Sagen, was ist! Die Klimakrise im Diskurs" war Thema ihrer einstündigen Rede in der beschaulichen, von einem einstigen Grünen regierten Universitätsstadt.

In einer analytischen, erhellenden und emotional mitreißenden Rede ging die Fridays-for-Future-Aktivistin im historischen Festsaal der Universität der Frage auf den Grund: "Warum ist es bisher nicht gelungen, genug Menschen für echten Umweltschutz zu gewinnen?" Noch aufschlussreicher sei indes zu überlegen: "Wie ist es gelungen, die Menschen für immer mehr Klimazerstörung zu gewinnen?" Vielleicht verändere sich ja auch deshalb nichts, "weil Wissen sich fast schon anfühle wie Handeln?"; weil es für manche Lifestyle geworden sei, fachkundig über die Klimakrise, deren Ursachen und Auswirkungen zu reden - aber nicht zu handeln. 

Rund 1.200 Menschen erlebten Luisa Neubauer live bei der "Tübinger Mediendozentur 2023" als überzeugende Rhetorikerin: das ältere Publikum überwiegend im historischen Festsaal, die Studierenden und Schüler:innen per Live-Übertragung auf die Großleinwand im benachbarten Hörsaal und auf dem Laptop draußen im Botanischen Garten unter schattenspendenden Bäumen. Von SWR und Universität zur alljährlichen "Tübinger Mediendozentur" eingeladen, bewies die 27-Jährige Geografin und politisch versierte Organisatorin großer Demonstrationen, dass sie auch dem Format der einstündigen analytischen Rede gewachsen ist.

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Da stand sie - schmal und elegant im schwarzem Hosenanzug - am Rednerpult vor den imposanten deckenhohen Orgelpfeifen im ehrwürdigen historischen Festsaal.

Als ich Mitte der 80er-Jahre selbst in Tübingen studierte, dozierten an dieser Stelle renommierte Professoren wie der Theologe Hans Küng und der Schriftsteller, Medienkritiker und Redner Walter Jens mit rhetorischem Theaterdonner über brennende Themen der Zeit: vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung bis zum Recht auf Freitod. Frauen gab es unter den so genannten "Geistesgrößen", zu deren Vorlesungen politisch und ökologische engagierte Wohngemeinschaften damals geschlossen pilgerten, nicht. Auch allgemeinverständlich war das damalige "Studium Generale" nicht immer, obwohl es genau diesen Anspruch formulierte: "Grundfragen der Existenz" und "wissenschaftsgeleitete Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen" allen Zuhörenden unabhängig von deren Zugang zu akademischer Bildung zu vermitteln.

Ganz anders Luisa Neubauers klarer Ton an diesem Tag: Zweifellos hätte ihre Rede Professor Walter Jens als Begründer des Tübinger "Institutes für Allgemeine Rhetorik" sprachlich genauso beeindruckt wie ihr klimapolitisches Engagement den Aktivisten Walter Jens: Mit einer dreitägigen Sitzblockade versuchten er, seine Frau Inge Jens und viele andere prominente Intellektuelle 1983 vor dem Militärstützpunkt Mutlangen die Stationierung von Pershing-Raketen zu verhindern.

Ein Jahr später rief Jens in Tübingen 6.000 Ärzt:innen aus aller Welt als Eröffnungsredner des "Medizinischen Kongresses zur Verhinderung eines Atomkrieges" zu: "Sagt Nein! zur Verharmlosung der Todesgefahr durch die Katastrophenmedizin". Denn sie erführen in tagtäglicher Praxis, "wie das Bewusstsein des Menschen, im Zeichen des Rüstungstaumels, immer weiter hinter einer Realität hinterherhinkt, die im Sinne Nietzsches 'toll' geworden ist". Wissen aber verpflichte zum Handeln, appellierte er an die "Partisanen der Humanität".

Präzise und ernsthaft

Vierzig Jahre später benennt Luisa Neubauer in Tübingen, präzise und ernsthaft, die "Blitzlichter einer Welt, bei der man meinen könnte, sie hätte den Verstand verloren": Das Ausblenden gesicherten Wissens und zahlloser wissenschaftlicher Warnungen vor der Erderwärmung und der Klimakatastrophe sei nur durch eine "selektive Komplexitätsverweigerung" zu erklären. Als Kind hat sie viel Zeit mit ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma verbracht, die sich als beharrliche Kämpferin für Umwelt, Frieden und globale Gerechtigkeit auch gegen Atom- und Kohlekraft positionierte. Als "Demonstrantin mit Handtasche und Hut" beschreibt Neubauer sie. Das Bücherregal ihrer Großmutter, so erinnert sich die jetzt 29-Jährige, habe sich über die Jahrzehnte mit Expertise und Aufklärung von Erich Fromms "Haben oder Sein" (1976) über "Die Grenzen des Wachstums" des Club of Rome (1978) bis zu Maja Göpels "Wie können auch anders" (2022) gefüllt. Daran lasse sich ablesen: Die Fakten zur Wohlstands- und Klimakrise waren bekannt. Nun stehe die - von ihr geliebte und für ihr Engagement bewunderte - Großmutter manchmal seufzend vor diesem Regal. Ja, es scheine ihr fast, als seufzten die folgenlosen Publikationen selbst, im Chor mit ihrer manchmal am Sinn ihrer Aufklärungs- und Protestaktionen zweifelnden Großmutter. 

Warum ist die einfache Rechnung nicht aufgegangen, fragt Luisa Neubauer, dass sich Menschen ändern, anders einkaufen und verhalten, wenn sie nur erstmal Bescheid wissen? Die Ursache sieht sie einerseits in der "Übermacht fossiler Energien gegenüber allen Alternativen", skrupellos durchgesetzt von mächtigen Konzernen. Aber auch wirksame emotionale Narrative, nachhaltig ins Lebensgefühl von Generationen implantiert, trügen bis heute zur Meinungsformierung bei. Unter anderem durch Werbung wurden junge Menschen über Jahrzehnte immer wieder "in die fossile Welt" hinein erzogen: Die Nachkriegs-Autokäufer drängten mit einem "Das hab ich mir verdient"-Lebensgefühl massenweise auf die Straßen. Mit dem Käfer nach Italien in den Sommerurlaub bedeutete damals die große Freiheit. Das fossile "Mein Haus, mein Boot, mein Auto"-Selbstverständnis aus dem Sparkassen-Spot der 90er-Jahre präge Einstellungen bis heute nachhaltig. Sich selbst nahm Luisa Neubauer, als Angehörige der "Easy-Jet-Generation", von ihrer Kritik am kollektiven Ausblenden nicht aus: Als 19-Jährige schien auch ihr mit dem Abitur das Recht auf eine Fernreise fast zum Nulltarif selbstverständlich verbunden. Das war einmal.

"Die fossile Party ist vorbei"

Hinzu komme, so die Klimaaktivistin, dass Katastrophenerzählungen leider weiterhin mehr Beachtung fänden als Narrationen über ökologische Veränderungspotentiale: "So lange es keine neuen Geschichten der Zukunft gibt, werden sich Menschen um das fossile Lagerfeuer versammeln." Ihr Appell, vor allem an die älteren Zuhörer:innen im Saal: "Hört auf, Euch in der Verblüffung zu verlieren, wie es so weit kommen konnte". Wichtig seien jetzt zukunftsfähige Lebensentwürfe, die nicht als Verzicht erlebt werden, sondern, sondern als Erfüllung: "Die fossile Party ist vorbei. Jetzt kommen wir. Aber keine Sorge, zu unserer Musik kann man auch tanzen."

Das Publikum dankte Neubauer, Alt wie Jung, mit Standing Ovations für ihre Analyse, Ermahnung - und Ermutigung. Bei Rückschlägen nicht aufzugeben und aus der geliebten Natur, für deren Erhalt man kämpft, immer wieder Kraft zu gewinnen: Beides hat Luisa Neubauer von ihrer ersten Verbündeten und Diskurspartnerin gelernt, ihrer Großmutter: eindrucksvoll nachzulesen im während der Corona-Lockdowns entstandenen Buch "Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich".

Mittags Protest, abends Ansprache

Wer dachte, Luisa Neubauer sei nur zum Reden nach Tübingen gekommen, der hat nicht verstanden, dass "Sagen, was ist!" für sie untrennbar mit "Tun, was zu tun ist" verbunden ist. Bevor sie abends als Impulsgeberin der Mediendozentur den Tübinger Salonökolog:innen die Leviten las, protestierte sie Nachmittags, in T-Shirt und Jeans, vor dem pittoresken Tübinger Rathaus. Die Aktivistin unterstützte die örtliche Fridays-for-Future-Gruppe in deren Kampf gegen ein regionales Straßentunnelbauprojekt. Wäre der Tübinger Oberbürgermeister nicht gerade in selbstverordneter Besinnungspause und Soziale-Medien-Abstinenz: Boris Palmer hätte sich vermutlich für ein Foto mit Luisa unters Volk gemischt, wie er das auch bei im Rathaus getrauten Hochzeitspaaren gerne tut.

Oben im Sitzungssaal wird der Tübinger Gemeinderat Ende Juli über die Haltung der Stadt zum seit über 30 Jahren in Planung befindlichen Mammuttunnel abstimmen. Der soll den privaten Autopendlerverkehr nach Stuttgart, vor allem aber den Gütertransport per LKW von der Schwäbischen Alb erleichtern. Und erscheint damit auf den ersten Blick als ein Relikt aus genau jener fossilen Ära, deren Ende Luisa Neubauer an diesem Tag in Tübingen gerne verkünden würde.

338 Millionen Euro soll die 2,3 km lange Tunnelröhre kosten. Wie groß deren "CO2-Rucksack" wäre - also die durch Tunnelbau und -betrieb verursachten Emissionen - haben die Planer nicht errechnet. Für die gegnerischen Initiativen ist klar: "Der Schindhaubasistunnel wird dafür sorgen, dass mehr Autos unterwegs sein werden und er verstößt damit gegen das deutsche 1,5-Grad-Ziel." Ihre Forderung ist deshalb: "Die Planungen sollten abgebrochen und das Geld in zukunftsfähige Alternativen investiert werden."

Der Tunnel soll zwei innerstädtischen Wohngebiete mit hohem Anteil an ökologisch engagierten Bürger:innen Schutz vor Lärm und Abgasen durch eine intensiv befahrene vierspurige Schnellstraße geben. So wurde es Anfang der 90-er Jahre versprochen als die beiden Viertel entstanden. Ob sich anno 2023 lokale Gesundheitsfürsorge oder globaler Klimaschutz durchsetzt? Die Haltung von Luisa Neubauer und "Fridays for Future Tübingen" dazu war auf ihrem Transparent zu lesen: "Tunnel stoppen statt Klima schrotten".