Es ist ein historisches Thema mit Brisanz, das Daniel Weiss erforscht und das den Blick auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden verändern könnte. Bis Ende Juli und für insgesamt sieben Monate ist der gebürtige US-Amerikaner an der Universität Tübingen, um die Ursprünge der jüdisch-christlichen Konflikte zu erforschen.
Das Ausgangsproblem: "Weil es christliche Texte aus dem zweiten und dritten Jahrhundert gibt, die sich feindlich gegenüber Juden äußern, nimmt man oft an, dass Juden mit feindlicher Haltung reagierten." Doch ist das tatsächlich der Fall? Die Lösung: Noch einmal genau hinsehen.
Den Blick fürs Detail hat der 44-Jährige, begann doch seine Karriere in der Biologie und Informatik. Später zog es ihn aus intellektuellen und persönlichen Motiven - Weiss ist Jude - in die Religionswissenschaft. Doch die Arbeitsweise der Naturwissenschaften prägt ihn bis heute: "Gerade wenn wir alte Kulturen studieren, kommt es vor, dass wir Vorannahmen an einen Text herantragen." Die Bereitschaft, eine Hypothese aufzugeben, sobald sie sich als falsch erweist, werde dann zur Schlüsselkompetenz.
Konkret wird das etwa am hebräischen Begriff "Minim", der Weiss aktuell beschäftigt. Jüdische Rabbiner des dritten Jahrhunderts nutzen ihn abschätzig, etwa um Sekten zu bezeichnen. Da Christen in Jesus den Sohn Gottes sehen, galt es in der Forschung lange als selbstverständlich, dass sie in die "Minim-Kategorie" fallen.
"Minim" und "Jesusleute"
Weiss ist anderer Ansicht. Kurzerhand zeichnet er zwei Kreise auf ein Blatt - beschriftet mit "Minim" und "Jesusleute" - die sich leicht überschneiden. Das Bekenntnis zu Jesus habe damals nicht zu einer pauschalen Ablehnung geführt, erläutert Weiss. Dann zeigt er auf die Schnittfläche der Kreise: "Ich vermute, dass es hier mehr um die soziologischen und nicht primär um theologische Aspekte geht". Erst wenn sich Christen bewusst von der jüdischen Mehrheit gelöst und abgegrenzt haben, seien sie als "Minim" bezeichnet worden.
Auf die Frage, weshalb er für sein Projekt gerade Tübingen ausgesucht hat, zeigt Weiss in Richtung der Bibliothek. Tatsächlich befassen sich Evangelische Theologen hier seit über 120 Jahren mit jüdischer Literatur. 1955 wurde sogar ein eigenes Institut zur Erforschung des Judentums errichtet. Doch spätestens als 2010 die Nazi-Vergangenheit des Gründers Otto Michel ans Licht kam, wurden die Motive dieser Forschung vielfach hinterfragt.
Religionen ins Gespräch bringen
Oft mussten rabbinische Texte auch für innerchristliche Debatten herhalten, zum Beispiel um die Authentizität der Jesusberichte zu beweisen. Heute wisse man, dass viele rabbinische Texte zur Zeit Jesu noch gar nicht existierten, erklärt Weiss. Vielleicht reagierten sie sogar auf das Neue Testament." Er versucht daher nicht, die eine Religion aus der anderen heraus zu erklären, sondern möchte beide ins Gespräch bringen.
Bleibt noch die Frage, wie es jetzt zur Trennung von Juden und Christen kam. Eine abschließende Antwort will auch Daniel Weiss nicht geben. Doch er hat eine wichtige Spur gefunden: die "Verschmelzung des Christentums mit dem römischen Reich" im vierten Jahrhundert. Das römische Reich habe für Juden nämlich schon lang als heidnisch und götzendienerisch gegolten. Der schlechte Ruf färbte dann auf das Christentum ab. Dazu kam, dass Christen durch diese Verschmelzung Macht über Juden gewannen, was sich etwa in wirtschaftlichen Benachteiligungen von Juden bemerkbar machte. Doch zuvor, davon ist Weiss überzeugt, waren die jüdisch-christlichen Beziehungen besser als man denkt - und könnten sogar als Inspiration für heute dienen.