Scherbakowa: "Putin an die Wand drücken"

Dr. Irina Scherbakowa
© epd-bild/Jens Schlueter/Jens Schlueter
Die russische Friedensnobelpreisträgerin und Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation "Memorial" Irina Scherbakowa spricht am 30. Juni 2023 um 19 Uhr in der Marktkirche Hannover zum Thema "30 Jahre Memorial - Kampf um die Erinnerung als Friedensarbeit".
Friedensnobelpreisträgerin
Scherbakowa: "Putin an die Wand drücken"
Die aus Russland stammende Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa hat an den Westen appelliert, weiterhin die Ukraine mit allen Kräften zu unterstützen. Dies sei die einzige Perspektive, um einen Frieden im russischen Krieg gegen das osteuropäische Land zu erreichen, sagte sie am Freitag, 30. Juni, in Hannover

 "Putin muss an die Wand gedrückt werden, dann gibt es eine Chance für das andere Russland", betonte die 74-jährige Historikerin und Germanistin  Irina Scherbakowa . "Sonst hat Russland keine Chance, dass sich irgendetwas verändert." Scherbakowa ist Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation "Memorial", die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. "Memorial" setzte sich seit 1989 für die Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltherrschaft in der früheren Sowjetunion ein. Die Organisation wurde Ende 2021 von den russischen Behörden aufgelöst.

Einige unabhängige Einrichtungen des Netzwerks innerhalb und außerhalb Russlands bestehen jedoch weiter. Nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine verließ Scherbakowa ihre Heimat. Rund 30 Mitarbeitende des Netzwerks treffen sich zurzeit in der Evangelischen Akademie Loccum bei Hannover zu einer internen Tagung. Einige davon sind auch aus Russland angereist.

Die Historikerin betonte: "Es gibt in der Geschichte Momente, wo man den Frieden nur dann erzwingen kann, wenn man den Feind militärisch stoppt." Deutliche Kritik richtete sie an die Adresse der deutschen Friedensbewegung: "Putin und sein Krieg sind mit Friedensbeschwörungen nicht zu stoppen." Wer so etwas behaupte, wolle sich mit der Wirklichkeit dieses Krieges nicht auseinandersetzen. "Er beharrt auf alten Modellen, die er im Kopf hat, und nimmt hin, dass Europa sich in absoluter Gefahr befindet."

Die in Russland verbliebenen Frauen und Männer von "Memorial" versuchten, ihre Arbeit trotz aller Probleme fortzuführen, berichtete Scherbakowa. "Aber es wird jeden Tag schwieriger." Permanent komme es zu Anklagen oder Verhaftungen. Von den Behörden würden die Mitarbeitenden zu einem "Katz-und-Maus-Spiel" gezwungen. Glücklicherweise seien 80 Prozent der Archive von "Memorial" während der Pandemie digitalisiert worden und somit in Sicherheit. Scherbakowa selbst verließ wie viele Mitstreiter ihre Heimat nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine. Heute lebt sie in Berlin.

"Verdrehte Mythen" sollen Krieg legitimieren

"Wir würden nicht so im Visier stehen, wenn die Geschichte nicht zum Hauptkern der russischen Propaganda gemacht worden wäre", sagte die Friedensnobelpreisträgerin. "Verdrehte Mythen" von einem russischen Imperium sollten in Putins Welt den Krieg in der Ukraine in aggressiver Weise legitimieren. Vor dieser "gefährlichen Mischung" habe "Memorial" immer gewarnt. Wenn die Vergangenheit nicht aufgearbeitet werde, entstünden aus ihr neue Auswüchse, betonte die Historikerin.

Nach dem versuchten Marsch der "Wagner"-Truppen von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin auf Moskau werden sich aus Sicht der Menschenrechtlerin die Repressalien in Russland noch weiter verstärken. "Wir sehen, welche Angst man dort oben bekommen hat." Die Macht in Moskau sei nicht so gefestigt, wie es scheine. Die Zukunftsperspektive für Russland sei allerdings "so dunkel wie seit hundert Jahren nicht mehr", sagte Scherbakowa. Sie verglich Putins Regime mit der Mafia. "Europa kann nur demokratisch und frei bleiben, wenn man diesen Gefahren ins Gesicht sieht."

Am Freitagabend, 30. Juni, wird Irina Scherbakowa zu Gast beim Hanns-Lilje-Forum in der hannoverschen Marktkirche sein. Sie spricht dort zum Thema "30 Jahre Memorial - Kampf um die Erinnerung als Friedensarbeit". An der Diskussion beteiligen sich auch der evangelische Landesbischof Ralf Meister und die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski.