Was sind wir: gut oder böse?

Frau zeigt Daumen hoch und Daumen runter
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"evangelisch.de-kontovers"-Kolumnist Alexander Maßmann geht der Frage nach, ob die Menschheit gut oder böse ist.
Kolumne evangelisch kontrovers
Was sind wir: gut oder böse?
In ihren Bestsellern argumentieren Rutger Bregman und Steven Pinker, dass der Mensch gut sei. Sie wissen, dass ein Blick auf die Lage der Welt daran zweifeln lässt. Was sind wir also: gut oder böse? Und was besagt die christliche Lehre von der Sünde? Unser Ethik-Experte Alexander Maßmann geht den Fragen nach.

Kürzlich machte eine Umfrage Schlagzeilen, laut der ein Drittel der Männer in Deutschland zwischen 18 und 35 Jahren körperliche Gewalt gegen ihre Partnerin angewendet haben und das auch vertretbar finden. Diese Zahlen stehen im Gegensatz etwa zu der Ansicht des Historikers Rutger Bregman, dass der Mensch im Kern moralisch gut ist. Seit fast zwei Jahren hält sich inzwischen sein Buch "Im Grunde gut" auf den Bestseller-Listen. Darin argumentiert er: An sich "taugt" der Mensch. Häusliche Gewalt aber passt nicht in Bregmans Bild des "guten" Menschen, denn laut Bregman entspreche es unserer Natur, mit anderen mitzufühlen, mitzudenken und ihnen zur Seite zu stehen.

Gleich zu Beginn gesteht Bregman: Die Ansicht, der Mensch sei gut, dürfte heute unsinnig erscheinen – etwa während der Mensch die Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde ruiniert. Bregman bestreitet nicht, dass wir Menschen oft schlecht handeln oder Böses tun. Doch das betreffe nicht den eigentlichen Kern des Menschen. Vielmehr sind wir in Wirklichkeit hilfsbereit und außerordentlich sozial. Im Kampf gegen den Klimawandel sollen wir nicht den schlechten Ruf des Menschen für bare Münze nehmen, den Mut verlieren und verzagen.

Die Bestseller entdecken das Gute im Menschen

Bregmans Anliegen ähnelt in etwa der Ansicht von Steven Pinker, der vor zehn Jahren in einem dicken Buch die Ansicht vertreten hat, dass die Gewalt unter uns Menschen in den letzten Jahrhunderten um das Zehn- bis Fünfzigfache abgenommen hat. Bregman und Pinker unterscheiden sich in wichtigen Fragen: Bregman hält den Menschen für gut, weil die Evolution uns Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn gegeben hat. Deshalb kritisiert er etwa, dass die christliche Lehre von der Sünde den Menschen im Kern für schlecht erkläre. Laut Pinker dagegen sorgt erst die moderne, säkulare Vernunft für den Fortschritt der Humanität. Gemeinsam haben Pinker und Bregman aber, dass sie sich provokant für das Gute im Menschen aussprechen. 

Wenn Bregman oder Pinker Recht haben und sich der Mensch tatsächlich als moralisch gut herausstellt, dann sollte die Theologie sich dankbar korrigieren und nicht rechthaberisch auf dem Negativen bestehen. Aber liegen sie richtig? Und was bedeutet eigentlich die christliche Lehre von der Sünde, sogar von der Erbsünde?

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Gute Nachrichten für die Menschheit

Als die Nazis London bombardierten, sagten viele eine Massenpanik voraus. Auch Churchill erwartete: Die Hauptstadt würde von fliehenden Menschen lahmgelegt, die Versorgung würde zusammenbrechen und Großbritannien müsste schließlich kapitulieren. Doch die Menschen blieben ruhig, halfen einander und ertrugen den Bomben-Terror mit britischem Humor. Weit gefehlt, dass in der Not jeder sich selbst der Nächste wäre.

Mit dieser Episode illustriert Bregman seine These: Die Menschen sind im Grunde gut. Dagegen scheint ein Klassiker der Sozialpsychologie zu zeigen: Wenn man Menschen Macht gibt, verwandeln sie sich in rücksichtslose Sadisten. Im berühmten Stanford-Prison-Experiment spielten Probanden Gefängniswärter. Dabei gingen mit ihnen anscheinend die niederen Instinkte durch. Doch Bregman zeigt, dass das vermeintliche Experiment eine Farce war. Die "Wärter", die sich rücksichtslos verhielten, waren darin nicht frei und handelten nicht selbständig. Vielmehr folgten sie bloß den schrägen Anweisungen des Psychologen, der sich das makabere Theaterstück ausgedacht hatte. Oft dient "Stanford" als Beleg für die Bosheit des Menschen, doch das ist eine Täuschung.

Pinker: Die Abnahme der Gewalt

Ob Bregmans These insgesamt überzeugt, ist noch zu fragen. Doch mit Pinker stimmt er darin überein, dass der Mensch moralisch gut sei, trotz der vielen schlimmen Nachrichten. Pinker hat vor zehn Jahren in seinem dicken Bestseller "Gewalt" die Ansicht vertreten, dass die Gewalt im Laufe der letzten Jahrhunderte drastisch abgenommen hat. Das zeigen laut Pinker die Statistiken, die er in überwältigender Fülle aufbietet.

Die wesentlichen Veränderungen fanden laut Pinker in der Epoche der Aufklärung statt, grob zwischen 1650 und 1800. Die europäische Zivilisation entwickelt sich und breitet sich dann allmählich über die Erde aus. Menschenopfer, Folter, die Verfolgung von religiösen Abweichlern und Hexen kommen zum Erliegen, der Krieg fordert immer weniger Opfer, aber auch die Sklaverei, Duelle und Ehrenmorde verschwinden. Die Menschheit wird rational, während die Religion auf dem Rückzug sei. Wir zügeln unsere wilden Emotionen und üben uns immer mehr in zivilisierter Zurückhaltung.

Pinkers blinde Flecken

Selbst angesichts der massiven Gewalt des Zweiten Weltkriegs und der Shoah diagnostiziert Pinker, dass die Tötungsrate im Laufe der Jahrhunderte abnimmt. Doch in einem neuen Band zeigen Historiker, wie Pinker Statistiken und Quellen immer wieder verzerrt, Belege gegen seine Fortschritts-These aber ignoriert. 

Pinker schildert zum Beispiel das Mittelalter als eine "Orgie des Sadismus", von der die hochgelobte Moderne Europa erlöse. Doch eine Historikerin des Mittelalters zeigt: Pinker verbreitet hier bloß Klischees. Was soll sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts so drastisch verbessert haben gegenüber dem Mittelalter? Schon dort wurde die Folter wesentlich seltener angewendet als man meint, und bereits vor der Aufklärung wurde sie als reguläres Mittel der Justiz noch seltener. Inoffiziell wird sie allerdings noch heute in zahlreichen Ländern – auch im Westen – praktiziert. 

Auch wenn’s nicht schön ist, noch ein paar Beispiele der Gewalt. Der atlantische Sklavenhandel erreichte seinen Höhepunkt Ende des 18. Jahrhunderts, als er laut Pinker eigentlich hätte versiegen müssen, als Folge der Aufklärung. Großbritannien schafft die Sklaverei 1833 ab; andere Länder folgten deutlich später (Brasilien: 1888). Doch auch heute noch bleiben Sklaverei und Menschenhandel im Westen ein Problem. Pinkers Fortschrittserzählung übergeht zahlreiche andere Eruptionen der Gewalt, etwa durch die Kolonialmächte. Die Verelendung großer Teile der Weltbevölkerung ignoriert Pinker ebenso wie auch unsere systematische Zerstörung der Natur.

Bregman: Das Böse nur im Dienst des Guten?

Bregman gesteht ohne weiteres zu, dass es auch heute sehr oft zu schlimmer Gewalt kommt. Das Gute im Menschen hat seine Gründe besonders in der Biologie: Die Evolution formte uns zu besonders kooperativen, sozialen Wesen. Dass es dennoch zu Unrecht und Gewalt kommt, räumt Bregman ein, wenn er ein weiteres klassisches Experiment der Sozialpsychologie unter die Lupe nimmt. Der Psychologe Stanley Milgram gab Probanden die Anweisung, vermeintlichen "Schülern" Stromschläge zu verabreichen, um ihnen bei intellektuellen Aufgaben auf die Sprünge zu helfen. Das diene angeblich der Wissenschaft. Die Probanden wussten nicht, dass die "Schüler" die Elektroschocks nur vorspielten. Doch die Probanden gaben oft extreme Schocks, die in der Realität tödlich gewesen wären. Milgram meinte damit zu zeigen, dass normale Menschen unmenschliche Dinge tun, wenn es ihnen eine Autoritätsperson befiehlt.

Bregman modifiziert sein positives Menschenbild deswegen aber nur leicht: Die Menschen sind gut; unter Umständen handeln sie auch schlecht – doch das nur dann, wenn sie meinen, dass das dem Guten dient. Das spricht für Bregman für die gute Natur des Menschen. Zu wie viel Gewalt es dann aber kommt, kann man besonders in der Kritik an Pinker lernen.

Unsere Abgründe

Hier bricht Bregmans klar positives Menschenbild in sich zusammen. Der Massenmord der Nazis ist keine bedauerliche Nebenwirkung eines wohlmeinenden Denkens, das einem zufälligen Irrtum aufgesessen ist. Wenn der vermeintliche Irrtum katastrophale Folgen hat, können wir nicht die abstrakten Intentionen hoch schätzen und den Menschen gut nennen, aber das Resultat des Handelns unter den Teppich kehren. Gut möglich auch, dass sich die Probanden in Milgrams Experiment selbst belogen haben, wenn sie meinten, extreme Elektroschocks seien aus dem Grunde gerechtfertigt, dass sie dem Fortschritt der Wissenschaft dienten. Möglicherweise kommen Kontrollverlust und Gewalt zuerst und die fadenscheinige Entschuldigung danach.

Ausblick

Bregmans Buch "Im Grunde gut" finde ich nicht überzeugend, ebenso wie Pinkers "Gewalt". Immer wieder überkommt uns der Schrecken über die Abgründe des menschlichen Handelns. Die christliche Tradition hat durchaus etwas Wahres gesehen, wenn sie nachdrücklich an der Schattenseite des Menschen festhält. Die kontroverse Lehre von der Erbsünde bestreitet, dass der Mensch allgemein, auf eine grundlegende Weise immer schon für das Gute offen sei. Mehr noch als Bregman meint, finden wir uns in Situationen wieder, in denen sogar unser bestes Bemühen die Probleme nur verfestigt!

Aber die Lehre von der Sünde bedeutet auch nicht, dass der Mensch zu 95 Prozent einfach schlecht handle. Und schon gar nicht besagt die Erbsünde, dass wir einfach Teufel seien, die Freude am Sadismus haben. Diesen Strohmann hat Bregman anscheinend im Blick, wenn er den Menschen pauschal als gut bezeichnet, obwohl er tiefe moralische Verirrungen und böse Taten keineswegs leugnet. Die Form des Bösen, vom dem er den Menschen insgesamt freispricht, scheint also eine plumpe Karikatur des Bösen zu sein. Aber die vertritt auch die christliche Lehre nicht. 

Auch können wir dem Menschen aus christlicher Sicht durchaus Gutes zutrauen. Die Tradition spricht davon, wie der Mensch zugänglich ist für das Wirken von Gottes Geist. Das Neue Testament spricht von "guten Früchten". Und dass die nur dort entstehen könnten, wo Menschen sich ausdrücklich zum Christentum bekennen, behauptet ebenfalls niemand. Wer also die Sünde und das Böse ernster nimmt als Bregman es tut, kann auch im Kampf gegen die Klimakrise den Mut behalten. Der Mensch ist weder "im Grunde gut" noch völlig verkommen. Er ist gefährdet, aber brauchbar.