Müssen wir vom Wirtschaftswachstum Abschied nehmen?

Grüne Pflanzen wachsen in Händen
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Wirtschaft soll künftig klimaverträglich sein. Doch wie realistisch ist grünes Wachstum?
Kolumne: Evangelisch kontrovers
Müssen wir vom Wirtschaftswachstum Abschied nehmen?
Die Klimakrise wirft die Frage auf: Können wir uns unseren aufwendigen Lebensstil überhaupt noch leisten, oder sollten wir unsere Wirtschaft schrumpfen? Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann findet den Vorschlag der Journalistin Ulrike Herrmann weiterführend: Sie empfiehlt das Modell der britischen Überlebenswirtschaft aus dem Zweiten Weltkrieg.

Olaf Scholz nennt die Blockade-Aktionen der "Letzten Generation" "völlig bekloppt". Über die Klima-Kleber wurde natürlich viel debattiert. Genau wie Scholz’ Einschätzung treten diese Beiträge aber auf der Stelle: Man spricht über Protest und die Grenzen zivilen Ungehorsams, ja sogar über "ökologischen Terrorismus".

Doch damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit gerade weg von dem, worauf es den Protestierenden ankommt. Ja, die Blockaden der "Letzten Generation" sind selbst zu einer Ablenkung von ihrem eigentlichen Thema geworden – von der Klima-Politik.

Also: Bitte nicht mehr von den Klima-Klebern sprechen, sondern von der Klima-Krise. Es zeichnet sich ab, dass 2023 eines der heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen wird. Schon jetzt lebt über ein Fünftel der Erdbevölkerung in Regionen, in denen die Erwärmung die Marke von 1,5 Grad in mindestens einer Jahreszeit überschritten hat.

Damit ist nicht ganz dasselbe gemeint wie die 1,5- bis 2-Grad-Grenze des Pariser Abkommens. Doch die weltweiten CO2-Emissionen sind im Augenblick immer noch am Steigen, obwohl sie bis 2025 ihren Scheitelpunkt erreichen sollten.

Was heißt hier: bremsen?

Wenn ich mit hohem Tempo auf eine scharfe Kurve zurase, könnte ich sagen: nicht überreagieren. Ich bin ja ein "technologieoffener" Mensch, und die Autobranche folgt zum Glück den Grundsätzen freier Märkte. Andererseits: was hieße es in unserer Situation, zu bremsen?

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Ist die kapitalistische Wirtschaftsweise noch realistisch?

Auswahlmöglichkeiten

Hier lautet eine polarisierende Antwort: Degrowth. Wir müssten uns dafür entscheiden, dass wir als Gesellschaft nicht mehr wirtschaftlich wachsen, sondern schrumpfen. Der Kapitalismus produziert immer mehr, verbraucht mehr Energie und beutet mehr Ressourcen aus. Doch das, was unser Planet bereitstellt und aushält, können wir nicht variabel unserem Bedarf anpassen. Also sollten wir unseren Bedarf umgekehrt auf die Tragekapazität des Planeten einstellen, und das heißt: schrumpfen.

Vor zehn Tagen erst fand eine internationale Tagung  im europäischen Parlament statt, die Beobachter als das "Woodstock des Postgrowth" bezeichnen. Post- oder Degrowth hat auch in christlichen Kreisen Anhänger. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem kontrastieren sie mit einer ökologischen Theologie, die das "Bebauen und Bewahren" von Gottes guter Schöpfung betont.

Das Problem mit dem Schrumpfen

Die Schwächen dieses Plans sind offensichtlich. Schrumpfen bedeutet Rezession, gefährdet Arbeitsplätze und bringt enorme Unzufriedenheit hervor. Eine Analyse der Rezession von 2020  ergibt: Eine fünfprozentige Abnahme des Bruttosozialproduktes weltweit würde den zusätzlichen Tod von über 280.000 Kleinkindern bedeuten - wovon besonders Subsahara-Afrika betroffen wäre. In Deutschland wiederum sind Massendemonstrationen absehbar, und unsere Demokratie könnte schnell in Chaos und Tumult abgleiten. Die grüne Energiewende lässt sich dann erst recht nicht mehr steuern und bezahlen.

Grünes Wachstum?

Weil also Degrowth nicht funktioniere – so ist allenthalben zu lesen –, müssen wir uns offensichtlich für grünes Wachstum entscheiden. Unsere Wirtschaft soll in den Bereichen wachsen, die klimaverträglich sind. Die notwendigen Profite müssten wir fast ohne Treibhausgase generieren. Der Strukturwandel, der hier benötigt wird, ist bereits in vollem Gange.

Es fragt sich nur, ob das so klappen kann. Klar sein müsste natürlich: Aus der Tatsache, dass blindes Schrumpfen nicht funktioniert, können wir nicht folgern, dass die Alternative, das grüne Wachstum, ein gangbarer Weg ist. In den kommenden Jahren müssen wir den deutschen Strombedarf nicht nur wie bislang zu fünfzig Prozent mit erneuerbaren Energien abdecken, sondern zu hundert Prozent. Doch durch Wärmepumpen und E-Autos wird der Strombedarf noch deutlich steigen. Und was tun in der Dunkelflaute? Es wäre ja die denkbar schlechteste Lösung, wenn wir Degrowth bekämpfen, stattdessen das grüne Wachstum anstreben – aber als wirtschaftliches Resultat ausgerechnet ein Schrumpfen herauskommt!

Die Energiesicherheit ist ein entscheidender Faktor, der das grüne Wachstum in Frage stellt. Daneben gibt es noch verschiedene andere Unsicherheiten: Werden unsere Meere bald leergefischt sein? Nimmt die Produktivität unserer Böden so sehr ab, dass wir die Agrarprodukte gar nicht mehr erzeugen können, nach denen eine wachsende Wirtschaft verlangt? Wie steht es mit anderen Ressourcen wie etwa den seltenen Erden?

Dennoch dürfte die Energiefrage der Faktor sein, der das grüne Wachstum am klarsten begrenzt. Und nein, wir können uns jetzt nicht mit unfruchtbaren Debatten beschäftigen, ob nicht doch die Atomkraft … Was auch immer man von ihr hält, der Zug dürfte abgefahren sein.

Der dritte Weg: Schrumpfen, aber nicht chaotisch

In dieser vertrackten Lage stammt der interessanteste Beitrag, der mir bekannt ist, von der Journalistin Ulrike Herrmann. In ihrem Buch "Das Ende des Kapitalismus" zeigt sie einen dritten Weg zwischen grünem Wachstum und der Degrowth-Rezession auf. Zwei bittere Pillen müssen wir ihrer Meinung nach schlucken: Das grüne Wirtschaftswachstum ist eine Illusion, und wir müssen uns vom Kapitalismus mit seinen schönen Renditen verabschieden. Die gute Nachricht: die Gesellschaft kann frei, demokratisch und stabil bleiben.

Dabei könnten wir durchaus an Lebensqualität und Gerechtigkeit gewinnen. Doch vor allem bleiben uns einerseits die völlige Klimakatastrophe sowie andererseits der anarchische Kontrollverlust des chaotischen Schrumpfens erspart. Die Blaupause für eine solche Entwicklung sieht Herrmann in der demokratisch kontrollierten Kriegswirtschaft, die Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs unterhalten hat.

Herrmann würdigt ausgiebig, wie viel Gutes der Kapitalismus uns gebracht hat. Das entscheidende Problem mit ihm ist aber: Er ist im Wesen eine Wette auf das Wirtschaftswachstum von morgen. Man kann nicht das Wachstum mehr und mehr drosseln, weil es unsere CO2-Budgets auffrisst, aber dabei Kapitalist bleiben. Wirtschaftswachstum auf Grundlage der erneuerbaren Energien hält Herrmann für unrealistisch: Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind zu schwach weht, werden wir nicht genügend Energie haben. Weil wir also nicht immer mehr und immer schneller produzieren können, bricht der Kapitalismus zusammen. Also: Wenn schrumpfen, dann nicht mit einer Wirtschaftstheorie, die nach wie vor so tut, als lebten wir im Kapitalismus.

Staatliche Verteilung

Wenn wir aber nicht mehr kapitalistisch wirtschaften, müssen wir auch ein anderes Prinzip finden, um Güter so zu verteilen, so dass niemand leer ausgeht. Diese Aufgabe erfüllt der kapitalistische Markt schon jetzt nicht gerade gut. Wie in der britischen Kriegswirtschaft soll also der Staat die Waren zuteilen. Bei der Umstellung der britischen Industrie auf die Rüstungsproduktion wurden damals andere Güter knapp. Doch die staatliche Organisation sorgte dafür, dass auch die Ärmeren keinen Mangel an Nahrung, Medikamenten und anderem hatten.

So würde auch in der Zukunft niemand mehr als eine bestimmte Menge an Gütern erhalten – aber auch nicht weniger. Eine solche Neuorganisation dient natürlich nicht der Waffenproduktion wie damals in Großbritannien. Entscheidend ist, dass wir nur so viel produzieren, wie der Planet langfristig erlaubt.

Trotzdem keine Planwirtschaft

Dabei können wir uns auch nicht mehr auf die kapitalistischen Märkte verlassen, um die Bevölkerung mit den Gütern zu versorgen. Denn auf kapitalistischen Märkten herrscht deshalb kein Mangel (zumindest in der Theorie!), weil die kapitalistische Wirtschaft immer mehr produziert. Die aber verschärft die Klimakrise zusehends. Stattdessen soll also die Verteilung durch den Staat Versorgungsengpässe vermeiden, und so bleibt das Chaos aus, das beim Schrumpfen droht, wenn es innerhalb eines kapitalistischen Systems zur Dauer-Rezession kommt.

Vor allem die rare Energie würde so an die Unternehmen zugewiesen, dass dieses System funktioniert. Darüber hinaus bleibt die Gesellschaft aber frei. Wolfgang Kubicki kann sich ausreichend Zeit zum Duschen nehmen. Unternehmen, Presse, Wahlen und anderes lenkt der Staat gerade nicht. Es handelt sich nicht um eine sozialistische Planwirtschaft. Dass es in Großbritannien bei diesem Unternehmen sozial gerechter zuging als zuvor, machte diese Wirtschaftsweise sogar sehr beliebt.

Ist das realistisch?

Ob sich ein solches Vorhaben in dieser Form durchsetzen lässt, bezweifle ich. "Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus." In einer nicht-kapitalistischen Klimawirtschaft würde die Luftfahrt-und Automobil-Branche obsolet, und auch der Finanz- und Versicherungssektor ließe sich so nicht aufrechterhalten, wie Herrmann klarstellt. Das neue Modell müsste sich klar demokratisch legitimieren, doch im Augenblick sprechen sich nicht einmal die Grünen dafür aus, die Gesellschaft so drastisch umzukrempeln.

Theoretisch könnten wir uns deshalb zu dieser Öko-Wirtschaft durchringen, weil die Klimakrise äußerst ungerecht ist. Unter ihr leidet besonders die große Mehrheit der Menschen, die keine Schuld daran trägt, z.B. in vielen afrikanischen Ländern. Ihr CO2-Ausstoß ist lächerlich gering. Doch um der Gerechtigkeit willen wird sich die Öko-Wirtschaft nicht durchsetzen.

Seien wir ehrlich: Wir sollten unseren Gerechtigkeitssinn nicht überschätzen. Wenn wir frei zwischen globaler Gerechtigkeit und kapitalistischem Wohlstand zu wählen haben, wird der Wohlstand gewinnen. Wenn es zu solchen Umwälzungen kommen sollte, dann nur aus dem Grund, dass die Klimakrise auch uns selbst zu großen Leidensdruck verursacht. Doch dann könnte es schon zu spät sein.

Ausblick

Im Augenblick hoffe ich, dass die Bilanz der Energiewende nicht so ernüchternd ausfallend wird, wie Herrmann meint, wenn sie argumentiert, dass der grüne Strom knapp und teuer sein wird. Wenn Solarzellen und Windräder mehr Strom produzieren als gebraucht, werden hoffentlich neue Batterie-Technologien den Überschuss speichern können – dazu wird im Augenblick viel geforscht. Außerdem hat zuletzt eine europäische Initiative den Ausbau von Offshore-Windparks  deutlich vorangetrieben. Gut möglich also, dass die Stromversorgung weniger unter Mangel an Wind leiden wird als angenommen.

Trotzdem bleibt der Vorschlag größerer staatlicher Lenkung ein wichtiges Thema, das wir stärker diskutieren sollten. Gut möglich, dass die flächendeckende Versorgung mit Ökostrom weniger gut gelingt als erhofft! Außerdem gibt es neben der Energie andere limitierende Faktoren, die eine Fortsetzung des kapitalistischen Wachstums erschweren – etwa die Erschöpfung unserer Böden und das Versiegen anderer natürlicher Ressourcen.

Der Vorschlag der britischen Kriegswirtschaft stellt die Degrowth-Debatte auf ein volkswirtschaftlich deutlich solideres Fundament. Im Laufe der Jahrhunderte haben Christinnen und Christen immer wieder unterschiedliche Lebensweisen erprobt und diskutiert. Wir sollten uns also auch jetzt nicht auf Gedeih und Verderb an eine bestimmte – den Kapitalismus – klammern. Vorausgesetzt, wir können die Alternativen verantwortlich und nüchtern debattieren!