Eckhardt arbeitet in einer Wiener Klinik und in "Du sollst nicht lügen" wird sie mit einem eigenem Gutachten konfrontiert: Vor zwei Jahren hatte eine junge Frau behauptet, sie sei von ihrem Psychologen angegriffen und sexuell bedrängt worden. Karla hatte Anna Lobrecht (Mercedes Müller) damals unterstellt, sich den Angriff ausgedacht und die Würgemale am Hals selbst zugefügt zu haben. Als Erklärung diente ihr Annas Kindheit: Ihre Mutter war Haushälterin eines mittlerweile verstorbenen katholischen Priesters. Weil Anna niemandem verraten durfte, dass der Pfarrer ihr Vater war, ist sie quasi zur Lüge erzogen worden. Deshalb glaubt Karla ihr auch nicht, dass sie, wie sie nun gesteht, den Psychologen erschlagen hat. Tot ist der Mann aber trotzdem.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auf dieser Basis entwickelt Regisseur Till Endemann, der auch den ersten Film inszeniert und das Drehbuch zum zweiten gemeinsam mit Paul Salisbury geschrieben hat, eine Handlung, die sich formal am üblichen Krimischema orientiert: Annas Mutter (Johanna Orsini) versichert, die Tochter sei zum Zeitpunkt der Tat bei ihr gewesen; die Funkzellenauswertung bestätigt die Aussage. Dafür drängt sich ein anderer Verdacht geradezu auf, denn während ihrer Zeit in der Psychiatrie hatte Anna einen Verehrer; Pfleger Martin Heller (Thomas Schubert) hat aus Liebe zu ihr sogar einen Kollegen zusammengeschlagen. Da er außerdem zur Tatzeit am Tatort war, ist der Fall für die zuständige Ermittlerin klar.
Der kriminalistische Handlungskern mag zunächst nicht überwältigend originell klingen, aber der psychologische Hintergrund sorgt für eine erhebliche Aufwertung. Auch die personelle Konstellation ist reizvoll, denn anders als im ersten Film spielt die beteiligte Polizistin diesmal eine zentrale Rolle. Karla und die erfahrene Kriminalhauptkommissarin Radek (Susi Stach) lernen sich zu Beginn der Geschichte kennen. Beiden eilt ein gewisser Ruf voraus; Radeks Partner hat sich gar in den Innendienst versetzen lassen, weil er mit der ruppigen Art der Kollegin nicht klar kam. Die verschlossene Psychiaterin und die kernige Kommissarin bilden ein interessantes Team, weil sie auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassen.
Sehenswert ist "Du sollst nicht lügen" auch wegen der Umsetzung. Endemann verdankt sein Renommee als Regisseur authentischen Stoffen, die er im Auftrag des SWR verfilmt hat, allen voran "Flug in die Nacht" (2009), ein Film über das Unglück von Überlingen; ähnlich sehenswert waren "Carl & Bertha" (2011) und "Unter Anklage" (2014), ein Justizdrama über den Fall Harry Wörz. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich in seinen Arbeiten mit den Erkundungen der Psyche: "Das Versprechen" (2021) war ein aller Düsternis zum Trotz positives Drama über Krankheiten der Seele, "Ein Leben lang" (2022) ein berührend gespieltes Demenzdrama mit Henry Hübchen und Corinna Kirchhoff. "Im Schatten der Angst" könnte sich zum Nachfolgeformat der ebenfalls von ZDF und ORF koproduzierten herausragenden Reihe "Spuren des Bösen" mit Heino Ferch und Juergen Maurer entwickeln, zumal Karla und die Kommissarin ein ähnlich sehenswertes Duo bilden.
Herzstück des Films sind aber natürlich die Gespräche der Psychiaterin mit der Patientin, zumal Anna in der einsamen Ärztin eine verwandte Seele sieht: Eckhardts fachliche Qualifikation steht außer Frage, selbst wenn ihr väterlicher Chef (Johannes Silberschneider) es für einen Fehler hält, dass sie den Fall übernimmt; außerhalb der Anstalt jedoch wirkt sie etwas hilflos.
Uneingeschränkt souverän agiert sie vor allem in einem in beruhigendem Altrosa gehaltenen Besprechungsraum, der daher nicht nur für ihre Schutzbefohlenen eine Art Refugium darstellt. Im Kontrast zu dieser Wohlfühlatmosphäre hat Endemann die weiteren Szenen betont trist gestaltet (Kamera: Tobias von dem Borne): Der Rest des Film ist weitgehend in gedeckten Farben halten, einige Aufnahmen sind auf ein schmuckloses Grauweiß reduziert. Sehr berührend sind auch die Szenen mit Karlas Freund: Pianist Peter Sandor (Michele Cuciuffo) wird mit dem Allegretto aus der 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven eingeführt. Als er nach einem Angriff schwer stürzt und im Koma liegt, wird die berühmte Melodie dank der geschickten Integrierung in die Musik (Raffael Seyfried) zum melancholischen Leitmotiv des Films.