Die Predigt kommt aus den Lautsprechern in der Kirche. Zu hören ist ein digitaler Sprachassistent. Die Gottesdienstbesucher schauen während des Segens zwar in Richtung des Altars, doch anstatt eines Pfarrers erblicken sie einen Bildschirm. Darauf wird das Gesprochene in kreisrunden Schwingungen visualisiert. Geschrieben wurde der Text von ChatGPT, einem sprach- und textbasierten Chatbot, der auf Künstlicher Intelligenz (KI) basiert. Diese Szenen, die man eher in einem Film vermutet hätte, sollen auf dem Kirchentag in Nürnberg im Juni Wirklichkeit werden.
Der Wiener Theologe Jonas Simmerlein wird diesen Gottesdienst erstellen. "Alles, was man im Gottesdienst hört, stammt aus den neuronalen Netzwerken von ChatGPT", sagt er. "Wenn alles nach Plan läuft, ist kein Mensch zu sehen." Neben den computergenerierten Texten, die Simmerlein visualisieren lässt, wird auch die Kirchenmusik von einer KI komponiert. Dazu lädt er bestehende Kirchenlieder in ein Programm hoch, das daraus eine neue Komposition schafft.
In dem von ChatGPT geschriebenen Eröffnungsgebet habe er keine Änderungen vorgenommen, sagt Simmerlein. Trotz ab und an auftretender Irritationen sei er mit dem Gebet zufrieden. "Man merkt, das Programm versteht nicht genau, was es da tut."
Was auf dem Kirchentag passieren soll, wird derzeit in der Theologie diskutiert. Anna Puzio, Theologin und Technikanthropologin der Universität Twente in den Niederlanden, sieht großes Potenzial im Einsatz von KI in der Kirche. Ein Feld, das theologisch noch nicht hinreichend beforscht sei, sagt sie. Auch Puzio wird bei dem KI-Gottesdienst auf dem Kirchentag dabei sein.
Vorteile der KI könnten in den grundsätzlichen Stärken technischer Produkte liegen. Zum Beispiel könnten kranke Menschen, die sonst nicht am Gottesdienst teilnehmen können, durch technische Fortschritte ein authentischer Zugang gewährt werden. "Die Technik sollte keine zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzen, sondern Kirche inklusiver gestalten", sagt Puzio.
Einigkeit besteht darüber, dass die neue Technik mit Vorsicht zu genießen sei. Das Programm liest vorhandene Daten aus aller Welt aus, erklärt Simmerlein. Woher diese Daten kommen, sei unklar. Zudem beruhten sie nicht zwangsläufig auf ethischen Kriterien: "Über jede Art von Technik verfügt ein Entwickler oder Hersteller." Daraus resultierten ein finanzielles Interesse sowie Unklarheiten zur Datensicherheit.
Pfarrer Jörg Niesner aus dem hessischen Laubach betont deswegen die Notwendigkeit gut ausgebildeter Pfarrerinnen und Pfarrer, die im grundsätzlichen Verständnis von Schrift und Theologie geschult sind. Theologisches Denken müsse korrekt eingeordnet werden. Er sieht den Pfarrberuf durch die KI nicht in Gefahr. Niesner engagiert sich auch in der digitalen Kirche in den sozialen Medien. Ein Gottesdienst sei nicht bloß Verkündigung, sondern auch Seelsorge. Die Authentizität von Pfarrerinnen und Pfarrer werde durch eine KI nicht zu ersetzen sein, sagt er.
Auch Simmerlein sieht die KI zukünftig in einer assistierenden Rolle. Der Sprachchat könnte als Predigtassistent fungieren. Niesner hält ChatGPT als Unterstützungssystem zur Erschließung neuer Quellen und Texte auch außerhalb des eigenen theologischen Wissens für überaus nützlich. Gerade Laienprediger könnten davon profitieren, sagt der Pfarrer. Auch für die individuelle Frömmigkeit sei es hilfreich. Menschen könnten mithilfe der KI zu einem bestimmten Thema ein Gebet formulieren, regt Niesner an.
Diese spezielle Art des Gottesdiensts könnte nach Meinung des Theologen Simmerlein durchaus auf Resonanz stoßen. "Es kann schon sein, dass wir uns zukünftig immer mehr in einer Welt bewegen, in der KI und Roboter Teil unserer Welt werden." Er glaube dennoch nicht, dass das in dieser Art ausschließlich gewünscht sei. Der Gottesdienst auf dem Kirchentag sei aber nicht als lustiges Experiment gedacht, betont Simmerlein. "Das wird ein echter Gottesdienst."