Christian Göbel lehrt Ethik an der Assumption University in Worcester/Massachusetts. Der katholische Theologe und ehemalige Gebirgsjäger ist auch Oberstleutnant der Reserve am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Er beschreibt den Zustand der russischen Armee so: "Es herrscht der Grundgedanke der Dedowtschina, also der Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten bis hin zu Todesfällen und Folter schlimmster Art."
Diese Soldatenmissachtung, das Einprügeln von Kadavergehorsam gebe es schon seit der Zarenzeit. In der russischen Armee überwiege der militärische Irrglaube, dass das Misshandeln von Rekruten Härte antrainiere, woraus Überlegenheit auf dem Schlachtfeld resultiere. Doch die hohe Zahl der Desertionen sprächen eine andere Sprache, sagt Göbel. In der russischen Armee gebe es nur wenig Vertrauen zu den eigenen Befehlshabern.
Dagegen gelte in der Bundeswehr das Konzept des Staatsbürgers in Uniform. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man eine neue, eine bessere Armee. Hier gelte der ethische Werterahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung und die Beachtung des Menschenrechts-Ethos. Obwohl es immer Bedenken gab, ob nicht weiter der archaisch starke Soldat zähle, der ohne viel Nachzudenken dem Prinzip von Befehl und Gehorsam folge, hätten sich die Reformer in der jungen Bundesrepublik durchgesetzt. Ethik sei nun Teil der soldatischen Professionalität. Wer Menschenwürde verteidigt, müsse eben auch menschenwürdig kämpfen.
Einsicht, Respekt und Vertrauen betonen
"Da werden Prinzipien wie Respekt, Einsicht, gegenseitiges Vertrauen, Fürsorge und so weiter betont. Das funktioniert allen Kritikern zum Trotz im hierarchischen System Militär, weil es echt Autorität schafft. Einem militärischen Führer, der fachlich kompetent und menschlich vorbildlich ist, werden Soldaten auch im Gefecht folgen, weil sie wissen, dass sie sich auf ihn verlassen können", ist sich Ethiker Göbel sicher.
In Moskau verteidigt Patriarch Kyrill I. hingegen den Krieg gegen den vermeintlich dekadenten Westen als Pflicht für jeden Orthodoxen. Es gibt Berichte, dass die sowjetischen Politkommissare von einst längst durch russische Militärgeistliche ersetzt wurden, die diese Härte weiterhin predigen. Deswegen sei es auch so wichtig, dass die Seelsorger in der Bundeswehr unabhängig und nicht in die militärische Hierarchie eingebettet sind, sagt Göbel.
Rund 100 evangelische, etwa 70 katholische Militärgeistliche und bis jetzt noch wenige Militärrabbiner kümmern sich um etwas mehr als 180.000 Menschen bei der Bundeswehr. Einer von ihnen ist Thomas Bretz-Rieck, evangelischer Militärpfarrer am Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Schwielowsee nahe Potsdam. In der Kaserne betreut der Militärgeistliche 1300 Soldatinnen und Soldaten. Seine Gemeinde, wie er sagt, auch wenn längst nicht alle hier evangelisch sind. Laut Militärseelsorge-Vertrag ist er Teil der so genannten "Inneren Führung". Er steht nicht nur für persönliche Seelsorge-Gespräche zur Verfügung, sondern erteilt im Auftrag der Bundeswehr "lebenskundlichen Unterricht". In Kleingruppen führt er mit Soldatinnen und Soldaten Diskussionen über Treue, Kameradschaft, Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Mut, zeigt etwa Filmausschnitte.
Diskurs- und Erörterungsaufträge für Soldat:innen
Etwa aus dem dänischen Film "A War". Ein Hauptmann gerät mit seinem Trupp in einem Dorf in einen Hinterhalt. Die einzige Rettung ist, Luftunterstützung anzufordern. Nur ist nicht klar, wo der Feind genau ist. Dann wird bombardiert, der Trupp ist gerettet. Als der Hauptmann die Lage inspiziert, sieht er unter den Trümmern das Bein eines Kindes. Im Film wird ermittelt, was war. Und in der Bundeswehrgruppe wird diskutiert.
"Wie würden Sie entscheiden? Ja, nein, vielleicht. Was sind die Gründe dafür, dagegen? Die Soldatinnen und Soldaten haben bei mir richtige Diskurs- und Erörterungsaufträge. Und dann müssen sie ihre Entscheidung vor den anderen vertreten", erläutert der Pfarrer seine Arbeitsweise.
Oder: 2003 verweigerte ein IT-Soldat den Dienst, weil er nicht den Irak-Krieg unterstützen wollte. War das Befehlsverweigerung oder die logische Konsequenz eines gewissengeleiteten Bürgers in Uniform?
"Nicht wenige sagen dann, der muss entfernt werden, der funktioniert als Soldat nicht. Aber: Der Soldat hat genau richtig gehandelt. Er hat sein Gewissen befragt. Und in der Bundeswehr wird man nicht entlassen oder an die Wand gestellt, wenn man seinem Gewissen folgt", erklärt Thomas Bretz-Rieck.
Ethik und Moral ist in den Menschen
Letztlich geht es in den Diskussionen um das Töten des Feindes. Nicht wenige, mit denen der Militärgeistliche täglich zu tun hat, waren bereits im Auslandseinsatz. Für seinen lebenskundlichen Unterricht hat er extra einen ethischen Reader mit Interviews und Aufsätzen zusammengestellt. Keine einfache Kost. Er liest etwa mit den Soldatinnen und Soldaten den Aufsatz einer Ärztin, die in eine Sprengfalle geriet. Ein Soldat starb unter ihren Händen.
"Und sie sagt: Der erste Impuls nach diesem Anschlag war ein Gefühl des Ekels und der Rache. Es hat sie dann gerettet, dass sie und ihre Kameraden gesagt haben: Das tun wir nicht. Das entspricht nicht unseren Werten. Dass Ethik und Moral nicht etwas ist, was gesetzmäßig über allem steht, sondern etwas ist, was in den Menschen ist", zitiert der Militärgeistlicher aus dem Aufsatz.
Das Gewissen sei der Ort der Identität. Wichtiger als alle militärischen Handlungsanweisungen, bei der Bundeswehr die "Zentrale Dienstvorschrift", in der NATO-Sprache die Rules of engagement, sei das innere Wertekorsett, sagt der Militärpfarrer:
"Und jeder und jede beim Militär muss wissen: Ich werde zum Täter. Ich werde danach nicht mehr derselbe sein. Auch wenn ich mich schützend vor jemanden stelle und mir sage: Das war eine Notwehrsituation, oder das war mein Auftrag als Soldatin oder als Soldat, ich habe damit Leben gerettet. Dieses Täterwerden kriegt man nicht aufgelöst. Da spürst Du, was Du an der Seele mitbekommen hast."
Kameraden hinterfragen sich kritisch
Nicht jeder und jede von den mehr als 180.000 Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr werden regelmäßig am lebenskundlichen Unterricht teilnehmen können. Auch wenn der verpflichtend ist. Dazu seien immer wieder zu viele im Einsatz. Und auch die wenigen Seelsorgestellen würden dafür rein rechnerisch nicht ausreichen, sagt Pfarrer Thomas Bretz-Rieck. Aber die, die kommen, würden es mit Engagement tun. Ein Beispiel:
"In einem Seminar lange vor dem Ukraine-Krieg saß so ein Putinversteher: Putin sei nun wirklich der größte Held und der würde das echt gut machen. Und bevor ich irgendwas kritisch nachfragen konnte, hat das die Gruppe schon gemacht. Und das waren nicht Vorgesetzte, sondern einfach Kameraden."
Die Bundeswehr, gar die NATO-Armeen sind also ethisch höherstehend als die russische Armee? Der katholische Theologe Christian Göbel ist sich da ganz sicher. Aber die perfekte Armee könne es auch im Westen nicht geben. Beispiele: Das US-Militärgefängnis Abu Ghraib oder rechtsradikale Netzwerke bei der Bundeswehr. Nur das seien unethische Einzelfälle, nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Etappe.
"Viele dieser in den letzten Jahren bekannt gewordenen Fälle von ethischen Verfehlungen bis hin zu Menschenrechtsverletzungen sind ja nicht in der Hitze des Gefechts geschehen, sondern danach in Zeiten des unbeaufsichtigten Leerlaufs", sagt der katholische Theologe Gobel.
Die ethische Schärfung des Gewissens bleibt also eine immerwährende Aufgabe eben auch bei der Bundeswehr.