Worum es im Verfahren um Olaf Latzel geht

Olaf Latzel im Jahr 2015
epd-bild/Alasdair Jardine
Olaf Latzels (Archivfoto) umstrittenen Worte werden erneut vor Gericht geprüft. Das Verfahren gegen den Pfarrer der St. Martini Gemeinde in Bremen wird von dem Ethikexperten Alexander Maßmann beleuchtet.
Kolumne evangelisch kontrovers
Worum es im Verfahren um Olaf Latzel geht
Letzte Woche hat ein Gericht Olaf Latzels Freispruch aufgehoben. Der Bremer Pfarrer muss seine Aussagen zum Thema Homosexualität nun erneut verantworten. Was steht zur Debatte? Eine Analyse des Ethikexperten Alexander Maßmann in der neuen Folge der Kolumne "evangelisch kontrovers" von evangelisch.de.

Olaf Latzels Aussagen über Homosexuelle sind schrill. Der evangelische Pfarrer hat sich auf seinem YouTube-Kanal sehr negativ über homosexuell lebende Menschen geäußert. Letzte Woche wurde entschieden, dass seine Worte erneut vor Gericht geprüft werden: Ist das Volksverhetzung oder fallen die Worte noch in den Bereich der Religions- und Meinungsfreiheit? 

Ob Latzels Aussagen juristisch Volksverhetzung sind, kann ich nicht beurteilen. Was mich an diesem Streit interessiert, ist etwas anderes. Aus ethischer Sicht zeigen sich hier zwei Trends, wie so oft, wenn Homosexualität debattiert wird: Das Thema wird mit besonderer moralischer Dramatik aufgeladen, doch dass hier psychologische Gewalt herrscht, wird nicht ausreichend thematisiert.

Worum es geht

Latzel hat sich für einen einzelnen Ausdruck in seinen Ausfällen inzwischen entschuldigt. Er habe den Anschein erweckt, mit dem Wort "Verbrecher" habe er homosexuell lebende Menschen im allgemeinen gebrandmarkt, doch so allgemein habe er das nicht gemeint. Er habe vielmehr an einzelne militante Aktivisten gedacht, die zum Beispiel seine Kirche mit Farbe beschmiert haben. 

Allerdings hatte Latzel die Bezeichnung "Verbrecher" im gleichen Atemzug mit weiteren diffamierenden Aussagen gebraucht, denen er ausdrücklich eine allgemeine Form gab ("der ganze Genderdreck"). Laut Medienberichten  gab er mit "Homosexualität" den allgemeinen Gegenstand seiner Ausfälle an. Und bis vor genau 50 Jahren galten verschiedene homosexuelle Handlungen unter Männern in der BRD tatsächlich als Verbrechen. Ich persönlich finde es sogar noch drastischer, wie er allem Anschein nach die Homosexualität insgesamt als "zutiefst teuflisch und satanisch" bezeichnet hat.

Sprechen biblische Texte von Homosexualität?

Zunächst aber etwas allgemeiner zum Thema Homosexualität. Wenn Menschen die Homosexualität aus religiösen Gründen ablehnen, stehen bestimmte Bibeltexte im Hintergrund, die Geschlechtsverkehr zwischen Männern verurteilen. Teils heißt es dort, diese Männer ließen sich durch bloße fleischliche Lust und rohe Begierde bestimmen. Teils nehmen diese Texte an, dass sich ein Mann beim gleichgeschlechtlichen Sex in die Gewalt eines anderen begebe und sich dominieren lasse. Um sexuelle Gewalt an Männern, verübt von Männern, geht es etwa in der grauenhaften Geschichte von Sodom (1. Mose 19). Im Alten Orient dachte man: So in etwa müsse man sich Geschlechtsverkehr zwischen Männern vorstellen. Aus diesem Grund urteilen verschiedene Bibeltexte, dass Geschlechtsverkehr allein zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden dürfe. 

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Etwas anderes ist es, wenn Schwule personale Zuneigung auch körperlich und wechselseitig ausdrücken möchten. Wir öffnen uns erst seit weniger als einem Jahrhundert für den Gedanken, dass es vielen Schwulen auf Liebe und Treue, Beistand und Verantwortung ankommt. Außerdem erwähnen die alten Texte nirgendwo den Gedanken, dass sich jemand ausschließlich von Menschen desselben Geschlechts angezogen fühlt. 

Von der Homosexualität, wie wir sie heute kennen, wusste das Altertum dagegen nichts. Tatsächlich redet die Bibel an keiner Stelle von dem, was wir heute unter einer schwulen Beziehung verstehen, auch wenn sie von Sex zwischen Männern spricht – den sie ausschließlich als rohe Begierde oder als Gewalt versteht, wie es der antiken Sicht entsprach. Trotz der oberflächlichen Gemeinsamkeiten handelt es sich um zwei verschiedene Dinge.

Übertriebene Dramatik

Eigentlich bedeutend sind an den gegenwärtigen Gerichtsverhandlungen aber zwei Dinge. Zunächst: In einem früheren Verfahren hat ein Richter gefragt, ob Latzels Worte von der biblischen Tradition legitimiert seien. Doch wie auch immer man Homosexualität ethisch bewertet: Zur Verhandlung stehen hier Aussagen, die verglichen mit biblischen Ausdrucksweisen durchaus rabiat und schrill sind: "der ganze Genderdreck", "Angriff", "zutiefst teuflisch und satanisch", "Degenerationsformen", "immer massiver", "überall …"

Dieser höchst aufgeregte Ton verrät mehr über den Sprecher als über biblische Texte oder über ethische Erwägungen. Hier ist anscheinend jemand von der Angst getrieben, dass nicht nur eine einzelne traditionelle Norm verabschiedet wird, sondern dass eine umfassende Ordnung des Zusammenlebens stürzt. Er hat Angst, wir würden in die völlige Sittenlosigkeit katapultiert. Geht es vielleicht auch etwas weniger melodramatisch?

Psychologische Gewalt

Zweitens: Unter homo- und bisexuellen Menschen kommt es etwa viermal so oft zu Suizidversuchen pro Kopf wie unter heterosexuellen. Das ist aufgrund verschiedener Studien  in der westlichen Welt anzunehmen. Stimmungsmache gegen Schwule und gezielte negative Kommentare spielen dabei eine wesentliche Rolle. Hier hat das Christentum mit seiner traditionellen Repression der Homosexualität Schuld auf sich geladen, doch in den üblichen Diskussionen des Themas – in ethischen Fachdiskussionen wie in der medialen Aufarbeitung – kommt das kaum vor. Ernsthafte ethische Debatten in allen Ehren, aber wenn die Verzweiflung Menschen zu einem Suizidversuch treibt, muss man mit dem Apostel Paulus fragen: "Du aber, was richtest du deinen Bruder?" (Römer 14)

Ausblick

Das Urteil, ob drastische Aussagen zur Homosexualität im juristischen Sinne Volksverhetzung sind, überlasse ich anderen. Doch insgesamt halte ich das gegenwärtige Verfahren aus mehreren Gründen für bedauerlich. Unter denen, die die moralischen Ansichten des Angeklagten teilen, und denen, die mit der Anklage sympathisieren, bewegt das Verfahren wohl kaum jemanden zu einem sachlichen Überdenken der Frage, wie die Homosexualität ethisch zu bewerten ist. Stattdessen werden die schrillen Aussagen, die hier im Zentrum stehen, immer wieder neu in Umlauf gebracht. Dagegen wäre eine Beruhigung der Diskussionslage und eine moralische Abrüstung in der ethischen Diskussion um die Homosexualität angezeigt – besonders aufgrund derer, die homosexuell empfinden und die durch die Heftigkeit der Ausfälle in außerordentliche seelische Nöte geraten.