Eine neue Studie zu Missbrauchs-Fällen im Bistum Essen hat der Kirchenleitung schwere Versäumnisse bei der Verfolgung der Täter vorgeworfen. Die fehlende Aufklärung bis zum Jahr 2010 habe es Tätern ermöglicht, teilweise jahrzehntelang weiter sexualisierte Gewalt auszuüben, heißt es in der am Dienstag in Essen veröffentlichten Studie des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP).
Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck kündigte an, den Umgang mit Missbrauchs-Opfern und die Prävention weiter zu verbessern. Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke legte Overbeck hingegen nahe, als Konsequenz aus den Studienergebnissen zurückzutreten.
Beschuldigte Kleriker seien über Jahrzehnte lediglich auf andere Dienststellen versetzt worden, teilweise auch in andere Bistümer, heißt es in der Studie. Bis 2010 habe es außerdem keine Bemühungen seitens des Bistums gegeben, Betroffene von sexualisierter Gewalt zu unterstützen oder zu begleiten, erklärte IPP-Geschäftsführerin Helga Dill.
Insgesamt gab es laut aktuellen Zahlen des Bistums seit 1958 insgesamt 201 Beschuldigte. Zudem habe es 423 Meldungen von Verdachtsfällen gegeben. 226 Betroffene hätten sich gemeldet, ein Viertel von ihnen sei weiblich. 120 der Betroffenen hätten einen Antrag auf Anerkennung ihres Leids gestellt. Die meisten Taten seien zwischen den 50er und 70er Jahren verübt worden. Jedoch sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Ab 2010 sei den Tätern zwar erstmals mit Härte begegnet worden. Weiterhin habe es aber ein Konzept für den Umgang mit sexualisierter Gewalt gefehlt.
Die Studie bescheinigt dem Bistum Essen zwar Fortschritte bei Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und bei der Prävention. Dennoch gebe es weiterhin Defizite. So mangele es immer noch an einer klaren Bestimmung sexualisierter Gewalt. Gender- und Inklusionsaspekte würden zu wenig in den Blick genommen. Zudem drohe der hohe Aufwand der derzeit angestoßenen Präventionsmaßnahmen viele Verantwortliche in den kirchlichen Institutionen zu überfordern. Hier bestehe die Gefahr von Alibi-Konzepten, die lediglich dazu dienten, eine Vorschrift zu erfüllen, sagte Dill.
Der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, sagte, Studien könnten nicht die Aufarbeitung einzelner Missbrauchsfälle ersetzen. Da bestehe erheblicher Nachholbedarf. "Es braucht ein Recht auf individuelle Aufarbeitung und umfassende Akteneinsicht, die nicht an den Türen zu den bischöflichen Geheimarchiven enden darf."
Bischof Franz-Josef Overbeck räumte die jahrzehntelangen Versäumnisse ein, versicherte aber, dass die Bistumsleitung dazugelernt habe. Er kündigte an, die Prävention und die Personalführung zu professionalisieren sowie unbürokratischere Hilfen für die Opfer zu leisten. Generalvikar Klaus Pfeffer beteuerte, man wolle "wirklich radikale Veränderungen" vorantreiben.
Der Kirchenrechtler Lüdecke kritisierte hingegen Overbecks Reaktion auf die Studie. Er könne keine Lernkurve erkennen, sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Mittwoch). Gerade Overbeck sei bereits als Diözesanverwalter in Münster mit mehreren Missbrauchsfällen konfrontiert worden. "Und doch hat er sich in Essen angeblich nicht konsequent die Altakten kommen lassen." Der katholische Kirchenrechtler legte dem Ruhrbischof nahe, persönliche Konsequenzen zu ziehen.