Kennt man den Spanier Salvador Dalí (1904-1989) vor allem für seine rauschhaften Motive mit zerlaufenden Uhren oder fliegenden Elefanten, sind seine christlich geprägten Werke weitgehend unbekannt. Tränen fließen aus einem weit aufgerissenen Auge nach unten und oben, ein schwarzer Tusche-Klecks kündigt Unheil an, ein Kreuz schimmert auf einem Schlachtbeil stehend wie eine vage Hoffnung aus dem Chaos hervor - "Der Tag des Herrn" heißt das Dalí-Bild, das den Flyer zur Ausstellung ziert und neben weiteren auch im Ernst-Troeltsch-Raum im Ausgburger Annahof hängt.
Bettina Böhmer-Lamey steht immer noch fassungslos davor, sagt sie. Auch wenn die Pfarrerin und Ausstellungsleiterin sich in den vergangenen Wochen intensiv mit den Motiven befasst hat, ist ihr die Faszination ins Gesicht geschrieben. Gesammelt hat sie der aus Bad Wörishofen stammende evangelische Pfarrer im Ruhestand, Herbert Specht. "Dalí war ein Ausnahme-Theologe", sagt Böhmer-Lamey. "Diese Bilder erzählen bekannte Szenen und Geschichten aus der Bibel, lassen aber Freiraum zur neuen Interpretation und offenbaren überraschende Deutungen."
Da ist die "Erschaffung der Frau", die aus einer klaffenden Wunde in Adams Oberkörper hervorsteigt - allerdings in Schwarz. Das Unheil, der Sündenfall droht unweigerlich. Oder die Erweckung Jesu durch Gott Vater. Mit dem für Gottesdarstellungen charakteristischen Gelb umkränzt ist dessen Haupt. In einer Fingerzeig-Geste, wie man sie aus Michelangelos berühmten Deckengemälde aus der Sixtinischen Kapelle kennt, stupst er seinen Sohn an. Die schwarze Tinte, mit denen die Häupter der beiden unkenntlich gemacht wurden, offenbart aber bei näherem Hinsehen die Umrisse einer Heuschrecke. Ein für Dalí typisches Motiv, das man auch in seiner weltlichen Kunst kennt. Den Spanier plagte eine fürchterliche Angst vor dem Insekt.
Böhmer-Lamey hat eine Auswahl des Zyklus "Biblia Sacra" im Hollbau des Augsburger Annahofs untergebracht, wo während des gesamten Veranstaltungszeitraums bis zum 17. Februar auch regelmäßig begleitende Veranstaltungen wie Kunstgespräche stattfinden. Weitere, kleinere Bilder hängen zudem im Treppenhaus des Augustanahauses.
"Der frühe Tod von Papst Johannes XXIII. während des Zweiten Vatikanischen Konzils am 3. Juni 1963 und die Enttäuschung darüber waren wohl der Auslöser für den tief gläubigen Katholiken Dalí, in seiner Kunst zu vollenden oder wenigstens weiterzuführen, was dem Geistlichen nicht mehr gelungen war", deutet Böhmer-Lamey den Ansporn des Künstlers.
Damit schließt sie sich der Interpretation Herbert Spechts an, der 2016 das erste Mal mit Dalís Bildern der "Biblia Sacra" in Berührung kam. "Mein erster Gedanke war: Wieso kenne ich diese Bilder nicht?", erklärt dieser seinen Forscherdrang, die Bilder verstehen zu wollen. In Dalís Schriften komme heraus, dass er ein intensiver Gott-Sucher war. Jedes Bild fordere die Betrachtenden heraus mitzudenken, und am Ende Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen. "Dalí ist solch ein hervorragender Theologe, dass diese Bilder einem Prediger nur den besten Rückenwind geben", meint Specht.
Rund 20.000 Offset-Lithografien der kleineren Werke und exakt 1.797 der größeren seien 1967 gedruckt worden. Specht hat den Bestand erworben, verkauft auch einzelne Blätter und sucht sich seit einigen Jahren besondere Ausstellungsorte aus. In Augsburg ist der Zyklus zum ersten Mal zu sehen.