Von Moral und Moralismus

© kebudfam/iStockphoto/Getty Images
Alexander Maßmann fragt sich im aktuellen Beitrag der Kolumne "Evangelisch Kontrovers", wann aus Moral Moralismus wird.
Kolumne: Evangelisch Kontrovers
Von Moral und Moralismus
Das vergangene Jahr war eines intensiver Debatten um das richtige Handeln. Traditionell ist auch die evangelische Kirche bedacht, sich moralisch zu positionieren. Doch unter Umständen kann das gerade nach evangelischer Überzeugung problematisch sein. Wann also wird Moral zum Moralismus?

In meiner Lieblingsszene aus der Serie Downton Abbey tut die verwitwete Gräfin Violet Crawley eine ihrer scharfzüngigen Verlautbarungen : "Does it ever get cold on the moral high ground?" In etwa: "Ist Ihnen schon mal schwindelig geworden auf dem hohen Ross der Moral?"

Im nun zu Ende gehenden Jahr wurde verstärkt ein überhandnehmender Moralismus beklagt. Fußball-Fans waren irritiert von der intensiven Kritik an der WM in Katar (vielleicht auch in dieser Kolumne). Eine große Anzahl von Bürger:innen lehnt den disruptiven Protest der "Letzten Generation" ab. Es wurde (teils auch in dieser Kolumne) die gewohnte Litanei von politischen Inkorrektheiten debattiert. Und zuletzt wurde vom Moralismus gesprochen, nachdem die evangelische Kirche ein Tempolimit  für Dienstfahrten beschlossen hat. Zeit also für eine ethische Diskussion des Moralismus – und der Moralismus-Kritik.

Die Kritik am Moralismus

Eindringliche moralische Appelle stoßen leicht an die Grenzen evangelischer Überzeugungen. Sie sind nicht nur oft wohlfeil: Wer hat schon etwas gegen Solidarität? Mehr noch: Wenn es aus religiösen Gründen zu einem Wandel im Verhalten kommen soll, dann aus evangelischer Sicht nur, solange das von der gewinnenden Kraft des Guten motiviert ist. Letztlich kann das Motiv nur die Dankbarkeit gegenüber Gott sein, nicht ein abstraktes Müssen. So schildert das Alte Testament etwa die Zehn Gebote als eine Anrede an das Volk Israel, das gerade aus der Sklaverei befreit wurde. Die einzelnen Gebote gelten kraft der Autorität der Freiheit, als Anleitung zur "Bewahrung der Freiheit". 

Hinzu kommt, dass die eigentlich interessanten moralischen Fragen mit Konflikten verbunden sind. Viele haben sich z.B. nach dem russischen Überfall auf die Ukraine – verständlicherweise – für einen kompletten, abrupten Verzicht Deutschlands auf russisches Gas ausgesprochen. Das hätte allerdings deutliche Folgekosten bedeutet, etwa für Wirtschaft und Arbeitnehmende. Eine moralische Stellungnahme, die solche Konflikte gar nicht mitbedenkt, ist moralistisch, weil ein schlichter, hoher Anspruch unvermittelt auf eine komplizierte Wirklichkeit prallt. Auf diejenigen, die die Konsequenzen zu tragen hätten, wirkt ein moralistischer Appell leicht übergriffig.

Liegt der Moralismus an einem Charakterfehler?

Doch wenn sich so viele Menschen über öffentlichen Moralismus beschweren, fragt sich, weshalb anscheinend so viele Akteure moralistische Appelle von sich geben. Moralismus-Kritiker, die sich über ein "Moral Grandstanding" beschweren – ein Zur-Schau-Stellen der eigenen Rechtschaffenheit – begründen das mit einem Charakterfehler: Die "Moral-Apostel" sind eitel und wollen mit hoher Moral glänzen. Auf ihrem hohen Roß entziehen sie sich gleichzeitig kritischen Rückfragen. Außerdem haben sie anscheinend die Hoffnung aufgegeben, dass die schlichte frohe Botschaft des Evangeliums die Menschen noch ergreife. Sie schließt jegliche Gesetzlichkeit aus und ist Geschenk, nicht moralische Forderung. Statt mit dem Evangelium hoffe man, zumindest noch mit der Moral Zustimmung zu gewinnen. 

Umfrage

Hat die EKD im vergangenen Jahr zum Moralismus geneigt?

Auswahlmöglichkeiten

Beispiel Tempo-Limit

Eine aktuelle Streitfrage ist das EKD-Tempolimit. Laut einem jüngsten Beschluss sollen Amtsträger:innen der EKD-Kirchen auf der Autobahn nicht schneller als 100 km/h fahren, wenn sie dienstlich unterwegs sind. Das ist mit dem politischen Wunsch eines allgemeinen Tempolimits von höchstens 120 km/h verbunden.

Verschiedentlich wurde das als moralistisch kritisiert. Doch immerhin handelt es sich hier nicht um Doppelmoral. Auch haben evangelische Entscheidungsträger nicht etwa einen nackten Appell an die Politik gerichtet. Angesichts der Sorge um Gottes Schöpfung haben sie sich selbst eine Verpflichtung auferlegt. Mit 100 km/h ist die Selbstverpflichtung strikter als die allgemeine Forderung. Und im Mai ergab eine Umfrage sogar unter ADAC-Mitgliedern eine knappe Mehrheit für ein Tempolimit von 130 km/h.

Damit ist noch nicht der Verdacht ausgeräumt, die EKD-Synode betreibe "Virtue Signaling": "Schaut her, wie moralisch wir sind!" Ob dieser Eindruck verbreitet ist, muss sich zeigen. Eine interne Befragung wird angezeigt sein, ob die Selbstverpflichtung überhaupt eingehalten wird. Möglicherweise wäre eine moderatere Selbstverpflichtung von 120 km/h sinnvoll gewesen. Denkbar ist allerdings auch, dass sich der Verdacht des "Virtue Signaling" nach einigen Windungen des Nachrichtenzyklus zerstreut. Immerhin gilt auf niederländischen Autobahnen allgemein Tempo 100.

Ist die Moralismus-Kritik selbst moralistisch?

Kritiker des Tempolimits müssen sich möglicherweise auch fragen, ob sie den Vorwurf des Moralismus leichtfertig erheben. Ironischerweise kann auch der Moralismus-Vorwurf selbst moralistisch sein, und die Moralismus-Kritik würde auf sie zurückfallen. Die Kritik des Moralismus verbittet sich ja die Konfrontation mit zu hohen moralischen Ansprüchen. Doch angenommen, eine gewisse moralische Position ist gerechtfertigt, dann kann auch die Pauschalkritik am Moralismus ihrerseits eine allzu wohlfeile Methode sein, in der Öffentlichkeit zu punkten. Die Moralismus-Anklage könnte unter Umständen dabei helfen, sich ohne viel Argumentationsaufwand durchzusetzen. Dagegen kann auch das kritisierte moralische Auftreten zumindest vereinzelt eine legitime Korrektur gesellschaftlicher Normen fördern. 

So wurde das Rauchverbot, das die Länder 2008 eingeführt haben, zuvor als totalitär gegeißelt. Seither aber findet eine klare Mehrheit der Bevölkerung gut, dass die meisten Gaststätten weitgehend rauchfrei sind. Ähnlich liegt es beim Veggieday, den verschiedene Städte und Einrichtungen regelmäßig praktizieren – keine 10 Jahre, nachdem Die Grünen heftige Ablehnung für die Forderung erfuhren.

Ein anderes Beispiel ist die #meetoo-Kampagne gegen sexualisierte Übergriffe. Hier haben viele Frauen Belästigungen öffentlich angeprangert. Außenstehende erklärten sich oft solidarisch. Das gab auch anderen Frauen den Mut, erlittenes Unrecht beim Namen zu nennen. 

Man kann sich sogar fragen, ob der sexuelle Missbrauch in den Kirchen ohne die #metoo-Bewegung die entsprechende Aufmerksamkeit erfahren hätte. Allerdings dürfte die öffentliche moralische Kritik zumindest im Fall des Komikers Luke Mockridge einen Unschuldigen getroffen haben. Das ist ein bedeutender Einwand. Doch die öffentliche moralische Kommunikation zum Thema sexualisierte Gewalt pauschal als moralistisch zu kritisieren, wie es zuletzt in einer theologischen Moralkritik geschah, heißt, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ausblick

Diese positiven Beispiele prominenter moralischer Kommunikation entwerten nicht die Kritik am Moralismus. Die deutliche Moralismus-Kritik in der Gesellschaft legt nahe, dass die unbequemen Mahner zumindest hier und da den Bogen überspannt haben. Außerdem dürfte das gesellschaftliche Klima stärker moralkritisch geworden sein – inzwischen machen die Mitglieder der großen Kirchen weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus. Doch vielleicht bedeutet die gegenwärtige Konjunktur der Moralismus-Kritik zugleich, dass sich – verständlicherweise – eine vorübergehende Ermüdung in der Gesellschaft breit macht angesichts der gegenwärtigen politischen Dauerkrise, die stets neue Anstrengungen von uns zu verlangt. 

Doch an sich sind prononcierte moralische Ansprüche weder gut noch schlecht. Diese Ambivalenz ist zu bedenken, wenn sich gesellschaftliche Kontroversen hochschaukeln und das moralische Klima rauer wird. Hier wäre es zu wünschen, eine Balance zu finden. Denn hinzu kommt, dass Polarisierung und sozialer Unfrieden von interessierten Kreisen gezielt gesucht werden. Russische Bots und Trolle verstärken provokante, teils rechtsradikale Positionen in den sozialen Medien. Möglicherweise lassen sich linksgerichtete User nur zu gerne provozieren.

Erst kürzlich wurde berichtet, wie russische Computer-Programme  sogar vermeintlich harmlose Debatten über Hollywoodfilme befeuern, und der Streit läuft auf die moralische Ebene über. Einsichtige Kommentatoren fordern moralische Abrüstung. Das ist erneut eine moralische Intervention, die vermutlich sinnvoll ist. Insgesamt aber ist das Problem vertrackt, und mit moralischen Appellen ist es nicht getan. Das Problem ist teils politischer Natur, und insgesamt wird auch der Moralismus-Vorwurf die Debatten kaum in friedlichere Bahnen lenken.