Seit Monaten kann man etwas Merkwürdiges beobachten: Es sterben viel mehr Menschen, als zu erwarten wäre - es gab also eine deutliche Übersterblichkeit, wie es Statistiker nennen. Im Juni betrug diese Übersterblichkeit laut Statistischem Landesamt bayernweit 14, im August knapp 11 Prozent. Deutschlandweit waren es im September 9 Prozent. Eurostat zufolge belief sich die Übersterblichkeit EU-weit im Juli 2022 auf rund 16 Prozent. Warum dies so ist, können Statistiker, Pfarrer, Standesbeamte und Bestatter in Bayern allenfalls vermuten.
Auf Pfarrei-Ebene verhält es sich mit dem Erfassen des Sterbegeschehens etwas kompliziert, berichtet Micha Boerschmann, Pfarrer der Münchner Lutherkirche. "Ein Blick in die Mitgliederstatistik zeigt, dass zwar die Sterbezahlen gestiegen sind, nicht aber unsere Bestattungen", sagt er. Nur noch gut die Hälfte der Mitglieder wird vor Ort kirchlich bestattet. 2019 starben in der Kirchengemeinde 72, vorletztes Jahr 94 und letztes Jahr 89 Mitglieder. Bis Ende August 2022 waren es 58 - im Schnitt 7,25 pro Monat. Rechnet man diese Zahl hoch, käme man auf 87 Verstorbene bis Jahresende. Damit wären auch heuer wieder mehr Menschen gestorben als vor dem Corona-Ausbruch.
Die Hoffnung auf eine Corona-Impfung, die so gut wirken würde, dass sich fast keiner mehr ansteckt und jedenfalls niemand mehr schwer erkrankt, war Ende 2020 groß. Vielleicht aus heutiger Sicht zu groß. Laut dem Robert Koch-Institut (RKI) verstarben 2022 bis 4. September deutschlandweit 4.440 Menschen mit symptomatischem Covid-19. Davon waren 639 grundimmunisiert, bei 1.763 Verstorbenen handelte es sich um Geboosterte. Insgesamt sind die Covid-19-Todesfälle laut den Statistischen Ämtern aber in jedem Fall zu niedrig, um die Übersterblichkeit zu erklären.
Politisch wurde versucht, die Ausbreitung des Virus mit allen Mitteln zu verhindern. Aus Sicht von Micha Boerschmann waren die Maßnahmen auch unumgänglich. Allerdings verursachten sie auch viel Leid, sagt er: "Bei Seelsorge- und Beerdigungsgesprächen erfahre ich, wie sehr die Menschen unter Vereinsamung gelitten haben." Der Theologe nimmt große "Perspektiv- und Mutlosigkeit" wahr. Er selbst hält es für möglich, dass dies für die erhöhten Sterbefallzahlen mitverantwortlich ist. Zwar sterben gehäuft Hochbetagte, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Doch Einsamkeit könnte der Grund dafür sein, dass so viele von ihnen gerade jetzt sterben.
Pfarrer: Einsamkeit beschleunigt "Verfallsprozesse"
Laut Pfarrer Friedemann Krocker aus Traunstein beschleunigte die Einsamkeit "Verfallsprozesse". Laut Statistischem Landesamt starben vor allem Senioren ab 80 Jahren. In diesem August lag die Sterbefallzahl in dieser Altersgruppen fast 18 Prozent über dem Median - dem statistischen Mittelwert - der Jahre 2018 bis 2021. Pfarrer Tilman Schneider aus dem unterfränkischen Thüngen fällt auf, dass Beerdigungen seit Beginn der Corona-Krise anders ablaufen, sagt er: "Ich höre oft, dass die Beerdigung schnell gehen soll." Steigende Beerdigungszahlen habe er noch nicht registriert.
Wie Matthias Liebler, Bestattermeister aus Marktheidenfeld (Kreis Main-Spessart) berichtet, deckt sich eine Analyse des Statistischen Bundesamts mit seinen Zahlen. Auch die steigen. "Anfang Oktober hatten wir bereits so viele Sterbefälle, wie wir sie 2021 Mitte November hatten", sagt der Vorsitzende des Bestatterverbands Bayern. Normalerweise hat es Liebler im Jahresdurchschnitt mit 300 bis 330 Todesfällen zu tun. Bis Anfang Oktober 2022 hatte er bereits 290 Todesfälle. Seine rein subjektive Beobachtung ist, dass immer dann, wenn das Wetter umschlägt, mehr Menschen sterben.
Statistisches Bundesamt tappt im Dunkeln
Statistische Daten lassen sich gut dazu benutzen, in die Erforschung von Phänomenen einzusteigen. In Bezug auf die seit Monaten erhöhten Sterbefallzahlen steht das noch aus.
Auch das Statistische Bundesamt tappt im Dunkeln: Warum wurde im September 2022 schon wieder mehr gestorben? "Hitzewellen, die in den Vormonaten in zeitlichem Zusammenhang mit den erhöhten Sterbefallzahlen standen, gab es im September nicht", heißt es in einer Pressemitteilung vom 11. Oktober. Auch hätten sich die Covid-19-Todesfallzahlen verringert: "In welchem Ausmaß andere Faktoren zu den erhöhten Zahlen im September beigetragen haben, lässt sich derzeit nicht einschätzen."
In der Stadt München habe das vermehrte Sterben im Jahr 2020 begonnen, sagt Gerhard Benedikt vom Standesamt. 2019 gab es in der Landeshauptstadt 13.766 Sterbefälle, 2020 waren es 14.191 und 2021 fast 15.000. In den ersten acht Monaten 2022 allerdings wurden erst 9.062 Sterbefälle beurkundet. Hoch ist die Übersterblichkeit im oberfränkischen Teuschnitz. Hier starben heuer bis Ende September 45 Menschen - deutlich mehr als in den Gesamtjahren 2021 (37), 2020 (38) und 2019 (43). Das Durchschnittsalter der Verstorbenen lag bei 81 Jahren.
Deutlich wird, dass man bei den "zu viel Gestorbenen" differenzieren muss. Es gab in diesem Sommer wahrscheinlich zusätzliche Hitzetote. Es gibt nach wie vor Corona-Tote. Und es sterben mehr Menschen aus der in den vergangenen Jahren stark gewachsenen Gruppe der Hochbetagten. Doch es gab in letzter Zeit auch reichlich Ungewöhnliches, berichtet Bestatter Heiko Lässer aus Buchloe im Allgäu. Er hatte es zum Beispiel Anfang September binnen acht Tagen mit drei Fällen von Menschen um die 50 Jahre zu tun, die an plötzlichem Herztod starben.