Der Anfang wirkt wie ein Thriller und weckt Assoziationen zu Nicolas Roegs Mystik-Klassiker "Wenn die Gondeln Trauer tragen". In dieser Verfilmung einer Erzählung von Daphne du Maurier wird ein Elternpaar durch den Tod der Tochter völlig aus der Lebensbahn geworfen. Das kleine Mädchen ist im Gartenteich ertrunken; es hatte einen knallroten Regenmantel an.
Der "Irland-Krimi" beginnt mit den Bildern zweier Kinder, die ebenfalls rote Jacken tragen und auf einen Abgrund zu laufen. Ein Absturz wäre der sichere Tod; am Fuß der Klippe donnern Wellen gegen die Felsen. Auch die rote Einfärbung der kurzen Rückblenden erinnert an den Auftakt von Roegs Drama, in dem ein umkippendes Glas mit roter Farbe als sinistres Omen der Tragödie dient. Die Stimmung der nun folgenden 90 Minuten ist ähnlich düster, bloß die Geschichte ist eine gänzlich andere: "Familienbande", der Titel deutet es an, ist ein Familiendrama, das mit zunehmender Dauer immer grausigere Untiefen offenbart.
Mit dem fünften "Irland-Krimi" beginnt so etwas wie eine neue Zeitrechnung der Reihe: Frühere Figuren verabschieden sich, andere kommen hinzu. Der Film beginnt mit dem Umzug von Psychologin Cathrin Blake (Désirée Nosbusch) sowie dem Auszug von Sohn Paul (Rafael Gareisen) und endet mit der Versetzung seiner Freundin, der Polizistin Emma; Mercedes Müller war gemessen an ihrem Talent ohnehin meistens unterfordert.
Neu im Ensemble ist ein Austernhändler (Thomas Sarbacher). Cathrin, die sich endlich ihrer Sucht stellt, lernt den Mann, der ihr trotz einer gewissen leutseligen Aufdringlichkeit nicht unsympathisch ist, bei den Anonymen Alkoholikern kennen. Zum Glück hat Matt nichts mit dem aktuellen Fall zu tun; trotzdem ist die Beziehung nicht ganz unproblematisch.
Die Drehbücher stammen erstmals nicht mehr von Christian Schiller und Marianne Wendt; Regisseur Züli Aladag hat sich ebenfalls verabschiedet. Was sich nicht geändert hat, ist ein gewisses Fremdeln: Auch die neuen Filme wirken wie eine Importproduktion mit deutscher Hauptdarstellerin, weil das Ensemble bis auf wenige Ausnahmen aus Einheimischen besteht. Größeres Manko ist jedoch das sogenannte Typecasting. Im wahren Leben reagieren Menschen regelmäßig schockiert, wenn sich ein unscheinbarer Nachbar als Mörder entpuppt. In "Familienbande" sind die Monster jedoch umgehend zu erkennen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Episodenhauptrolle gehört allerdings gehört nicht dazu, selbst wenn ihr die Boulevardpresse einst den Namen "Slaughtering Abby" verpasst hat: Die Gattenmörderin ist seit fünf Jahren im Gefängnis, weil sie ihren Mann abgeschlachtet hat. Cathrin ist jedoch überzeugt, dass von Abby (Luisa-Céline Gaffron) keine Gefahr mehr ausgeht. Ihr Gutachten sorgt dafür, dass die junge Frau Freigang bekommt, um ihre kleine Tochter zu besuchen.
Abbys Mutter Kate (Denise McCormack) ist dagegen umgehend als furchtbare Person zu erkennen, dicht gefolgt von Schwager Devlin (Muiris Crowley), dem der potenzielle Unhold gleichfalls ins Gesicht geschrieben ist. Schwester Erin (Shauna Higgins) schließlich ist zweifelsfrei eins der Opfer der Geschichte; sie und Abby sind die beiden kleinen Mädchen aus dem Prolog. Die Familie lebt gemeinsam unter einem Dach. Mutter Kate legt Wert darauf, dass es sich um ein ehrenwertes Haus handele, aber die Krimi-Erfahrung lehrt: Hinter solchen Fassaden sind die Abgründe mindestens so tief wie der Schlund, auf den die Mädchen zulaufen. Bewegung kommt in die Handlung, weil Abby den Freigang nutzt, um mit ihrer Tochter Maisy abzuhauen, außerdem hat sie offenbar Devlins Revolver mitgenommen. Entsprechend groß ist nun die Aufregung; womöglich will die junge Frau erst ihr Kind und dann sich selbst töten.
Das klingt nach einem fesselnden Krimi, aber entsprechende Spannung kommt erst zum Finale auf, als tatsächlich ein Leben in Gefahr ist. Sehenswert ist immerhin die sorgfältige Bildgestaltung (Hanno Lentz), ohnehin ein Markenzeichen der Reihe. Die karge Landschaft spielt jedoch nur eine Nebenrolle, was doppelt schade ist, schließlich sind die Schauplätze das jeweilige Alleinstellungsmerkmal der Donnerstagskrimis im "Ersten"; allein wegen der Geschichte, die sich genauso gut hierzulande verorten ließ, hätte die Produktionsfirma nicht an der irischen Westküste drehen brauchen. Regie führte Matthias Tiefenbacher, der unter anderem für die ARD-Tochter Degeto die vier "Tel-Aviv-Krimis" (2016/17) sowie für das ZDF die schwarzhumorige Krimireihe "Schwarzach 23" (2015 bis 2020) gedreht hat.