Manchmal fällt es schwer, aufzuhören. Es gibt Serien, die müssen unbedingt fortgesetzt werden, weil die Fangemeinde es anscheinend nicht erträgt, dass eine Geschichte zu Ende erzählt ist. Dann werden weitere Episoden oder Staffeln erdacht und bis zur Erschöpfung des Publikums produziert und gesendet. In der Literatur kann das ebenfalls vorkommen. Zum Glück lief das Wartburg-Experiment so lang, wie ursprünglich geplant, und fand nun einen würdigen Abschluss.
Zur Erinnerung. Ab September 2021 nahmen nacheinander drei Schriftsteller:innen auf der Wartburg Platz. Einen Monat lang sollten Sie sich - nur wenige Schritte von der Schreibstube Martin Luthers entfernt – mit Luthers erster Übersetzung der Bibel vor 500 Jahren auseinandersetzen und ihrerseits etwas zu Papier bringen. Zuerst war es der Lyriker Uwe Kolbe, der auf der Wartburg einzog und dort "mit den vielen Toten und den vielen Lebendigen", die ihn dort umgaben, ins literarische Gespräch kam. Anschließend zog Senthuran Varatarajah ein, der in seiner Schreibstube mit dem Ende seines zweiten Romans rang, und diesen Prozess beschrieb. Schließlich war Iris Wolff auf der Wartburg zu Gast. Sie "sammelte Wörter", die ihr dort begegneten und setze sich mit ihnen auseinander, und warf mit ihnen Seitenblicke auf die Lutherbibel.
Nun ist ein gemeinsames Buch unter dem Titel "Der Augenblick nennt seinen Namen nicht. Wartburger Tagebücher" erschienen. Drei vollkommen unterschiedliche Zugänge finden sich hier wieder. Vereint sind sie allerdings nicht allein dadurch, dass sie sich nun gemeinsam zwischen zwei Buchdeckeln wiederfinden. Die drei Teile des Buches atmen gemeinsam die Luft der Wartburg. Jedem merkt man an, dass er in einer "unmöglichen" Situation geschrieben wurde: An einem historisch und literarisch extrem aufgeladenen Ort, in Abgeschiedenheit und gleichzeitig umlärmt von Tourist:innen. Dazu der Druck, in den vier Wochen auf der Burg etwas zustande bringen zu müssen. Die Wartburg hinterlässt ihre Eindrücke. Das ist in den Texten der drei Autor:innen ebenso zu finden wie in dem, was sie bei dem feierlichen Abschlussabend am 9. September 2022 im Palas der Wartburg erzählten.
Ein gelungenes Gespräch über das Schreiben
An diesem Abend ging es nicht allein darum, dass aus den entstandenen Texten gelesen wurde. Unter dem Titel "Poesie und Polemik" waren zusätzlich zu den drei Wartburg-Autor:innen noch der Gewinner des Münchner Lyrikpreises von 2021, Yevgeiy Breyger, und der Direktor des MDR-Landesrundfunkhauses Thüringen, Boris Lochthofen, eingeladen. Nach den Lesungen setzten sie sich unter der Gesprächsleitung von Landesbischof Ralf Meister und Burghauptmann Franziska Nentwig zusammen und begannen ein Gespräch über das Schreiben, über das Übersetzen, die Macht der Worte und die Schmerzen, einen Text zu beenden. Polemisch ging es an keiner Stelle zu. Die Teilnehmenden an diesem Rundgespräch waren durchweg nicht nur daran interessiert, sich selbst reden zu hören, sondern auch den anderen zuzuhören, ja einander zu verstehen. Mit großer Ernsthaftigkeit und gleichzeitiger Leichtigkeit ging es darum, ob man Texte gebären würde. Verstimmt war an diesem Abend lediglich der Flügel, auf dem Alexander Blume allerdings so gekonnt spielte, dass selbst dieser Umstand kaum auffiel.
Der vielleicht polemischste Satz kam von Senthuran Varatharajah, als er sagte "Ich glaube nicht an Geschichten." Er, der sich dermaßen mit seinem Text verbunden sieht, dass er sich "von ihm geboren" fühlt, ist sicherlich kein Erzähler in herkömmlichem Sinn. Iris Wolff entgegnete ihm lächelnd, sie glaube allerdings an Geschichten – nicht zuletzt an ihre Kraft. Aber auch diese Entgegnung ist kein wirklicher Widerspruch. Alle an diesem Abend wissen, wie mächtig Worte, Texte und Geschichten sind. Sie alle wissen, wie Iris Wolff in ihrem Beitrag zu "Der Augenblick nennt seinen Namen nicht" schreibt: "Bücher sind Gedächtnisse der Verwandlungen. Sie haben den, der sie schrieb, verwandelt und während ich sie lese, verwandeln sie mich."
Ein gelungenes Experiment
Das Wartburg-Experiment ist zu Ende und es ist in vielerlei Hinsicht gelungen. Die drei Gäste auf der Wartburg haben durch ihren Aufenthalt das, was Martin Luther vor 500 Jahren dort schuf und erlebte, neu belebt und übersetzt. Auf der Wartburg wurde vor 500 Jahren nicht nur die Bibel übersetzt. Es wurde eine neue Sprache gefunden. An diesem Ort sollte immer wieder über die Sprache nachgedacht und geredet werden. Hier sollten immer wieder Menschen sitzen und Texte gebären oder sich von ihnen gebären lassen.
Das kleine Buch, das vom Otto Müller Verlag und der Deutschen Bibelgesellschaft herausgegeben wurde, ist ein schönes Zeugnis dessen, was die drei Schriftsteller:innen auf der Wartburg erlebten und erdachten. Ich hoffe, dass viele Menschen es lesen werden. Wer einmal dort war, sollte es nicht verpassen.