Die badische Kirchenrätin Anne Heitmann beschreibt ihre Erfahrungen mit diesem Verfahren während ihrer Mitarbeit in Gremien des ÖRK und seine Bedeutung fu?r die ökumenische Gemeinschaft.
Ein Meer oranger Karten leuchtet u?ber den Köpfen der Delegierten im Plenarsaal, dazwischen der eine oder andere blaue Farbtupfer. Was die Delegierten bei den Geschäftssitzungen auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe hochhalten, sind keine Stimmkarten, sondern die sogenannten Tendenzkarten. Die orange Karte bedeutet: "Ich werde warm mit dem Vorschlag, so kann es weitergehen." Wer die blaue Karte hebt, sagt damit: "Ich stehe dem Beschlussvorschlag noch kalt gegenu?ber. Ich möchte einen wichtigen Einwand vorbringen."
Häufige Stimmungstests an Stelle von finalen Ja-Nein-Abstimmungen sind Teil des sogenannten Konsensverfahren. Fu?r viele ist es schwer vorstellbar, ökumenische Zusammenarbeit anders zu denken. Anderen erscheint das Verfahren fremd, langwierig und manchmal auch ein bisschen langweilig, vor allen Dingen, wenn man eine protestantisch-streitlustige Debattenkultur gewohnt ist.
Ein Blick in die Geschichte
Bei der Gru?ndung 1948 war es naheliegend, dass der ÖRK Verfahren der Entscheidungsfindung u?bernahm, die in Europa und Nordamerika in Parlamenten und kirchlichen Gremien u?blich waren. Schließlich kam die Mehrheit der Mitgliedskirchen von dort. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Mitgliedschaft des Rates vielfältiger, neue orthodoxe Kirchen und viele Kirchen aus Afrika und Asien kamen hinzu. Teilweise waren ihnen diese Verfahren insbesondere im kirchlichen Kontext aber auch in ihren Kulturen völlig fremd.
Außerdem hatten insbesondere die orthodoxen Kirchen Schwierigkeiten damit, dass sie durch den Beitritt von einer Vielzahl unterschiedlichster protestantischer Kirchen in Leitungsgremien einfach u?berstimmt werden konnten. Sie hatten Zweifel, dass sie in einem von Mehrheitsentscheidungen geprägten ÖRK adäquat mitarbeiten könnten. So wurde schließlich bei der Vollversammlung 1998 die "Sonderkommission zur Orthodoxen Mitarbeit im ÖRK" eingesetzt. Die Kommission, deren Mitglieder zu gleichen Teilen aus den protestantischen Kirchenfamilien und den orthodoxen Kirchen kamen, stellte sich unter anderem folgende Fragen: Kann es in einer ökumenischen Debatte Gewinner:innen und Verlierer:innen geben, die eine Abstimmung unweigerlich produziert?
Wie kann es gelingen, dass im ökumenischen Gespräch zahlenmäßige Minderheiten zu Wort kommen und ihre Stimmen auch in der Entscheidungsfindung beru?cksichtigt werden? Wie kann der ÖRK seine Vielfalt auf dem Weg zur Einheit nutzen, also den "bestmöglichen Nutzen aus den Gaben, der Geschichte, den Erfahrungen, dem Engagement und der geistlichen Tradition aller Mitgliedskirchen ziehen" (Abschlussbericht der Sonderkommission zur Orthodoxen Mitarbeit im ÖRK, S. 108).
Vor diesem Hintergrund setzt das Konsensverfahren auf Konziliarität, Integration der vielfältigen Stimmen und Entscheidungsfindung ohne förmliche Abstimmung. "Statt danach zu trachten, in der Debatte den Sieg davon zu tragen, werden die Teilnehmenden ermutigt, sich aufeinander einzulassen und zu versuchen, 'zu verstehen, was der Wille des Herrn ist' (Eph 5,17)" (ÖRK-Richtlinien fu?r die Durchfu?hrung von Sitzungen, S. 2). Inspiriert ist es nicht nur durch Verfahren, die einige orthodoxe Kirchen anwenden, sondern auch die Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker) oder die Uniting Church in Australia.
Was heißt das konkret?
Zunächst: Das Konsensverfahren ist kein Einstimmigkeitsprinzip und bedeutet kein Vetorecht fu?r einzelne Kirchen oder Konfessionsfamilien. Ziel ist es vielmehr einen gemeinsamen Weg zu gehen, auf dem breite Beteiligung möglich ist.
Alle Beschlussvorschläge und Dokumente werden zunächst in Anhörungssitzungen vorgestellt. Hier sollen die Perspektiven von möglichst vielen Kirchen, Konfessionen, Kontexten oder auch der unterschiedlichen Generationen gehört werden. Es geht darum zu verstehen, warum andere anders denken. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den Moderator*innen zu, die dafu?r sorgen mu?ssen, dass alle relevanten Meinungen vorgebracht werden können und niemand die Aussprache dominiert. Und sie fragen nach: "Wie geht es Ihnen mit diesem Vorschlag?" Dann ist es Zeit, die orange oder die blaue Karte zu heben. Auch die vielleicht noch unfertige Meinung derer, die sich nicht aktiv zu Wort gemeldet haben, zählt.
In der beschlussfassenden Sitzung muss am Ende keine Einstimmigkeit erzielt werden. Wenn sich ein Konsens abzeichnet, werden diejenigen, die noch die blaue Karte heben, angehört und gefragt, ob sie den sich abzeichnenden Konsens akzeptieren können, auch wenn sie dem vorgelegten Beschluss selbst nicht zustimmen. Die abweichende Meinung kann dokumentiert werden.
Immer wieder gibt es auf dem Weg Pausen. Es kommt vor, dass eine Aussprache unterbrochen wird durch eine Murmelphase an den Tischen oder ein Gebet. Es geht gleichsam um "Raum fu?r das Wirken des Geistes" und um Ru?ckbesinnung auf das gemeinsame Ziel von Einheit und Gemeinschaft. Schließlich können die Moderator*innen auch eine kleine Gruppe von Delegierten, die unterschiedliche Meinungen repräsentieren, aus dem Raum schicken und beauftragen, einen gemeinsamen Vorschlag auszuarbeiten.
Ein Verfahren mit Chancen und Herausforderungen
Das Gelingen eines solchen Verfahrens steht und fällt mit denjenigen, die es umzusetzen. Moderator*innen und Delegierte mu?ssen sich auf das Verfahren einlassen. Das wurde fu?r mich z. B. spu?rbar, als die Moderatorin plötzlich die Menschen hinter den Mikrophonen nicht mehr der Reihenfolge nach aufrief, sondern sagte: "Wir haben jetzt viele Stimmen von älteren Menschen gehört, was sagen denn junge Delegierte zu diesem Thema? Und wir haben viele Stimmen aus Asien gehört, was sagen die aus anderen Regionen?" Eine polarisierte Schlussdiskussion um eine Stellungnahme zur Situation in Israel und Palästina konnte im Zentralausschuss zum Ende gefu?hrt werden, nachdem eine kleine Kommission von drei Delegierten aus Palästina, Deutschland und England beauftragt worden war, eine konsensfähige Formulierung zu erarbeiten.
Konsensentscheidungen sind schließlich wichtig, um den Beschlu?ssen in den ÖRK-Mitgliedskirchen Gehör zu verschaffen. Die Entscheidungen haben fu?r die Mitgliedskirchen keine bindende Wirkung. Eine Chance, dass sie dort aufgenommen werden, besteht letztlich nur, wenn die Delegierten den Beschluss mit Überzeugung in ihren Kirchen vermitteln.
Aber: Dieses Verfahren braucht Zeit. Zeit zueinander zu kommen. Zeit fu?r die Bibelarbeit und den Sonntagsgottesdienst zwischen Anhörungssitzungen und beschlussfassender Sitzung. Es braucht die Geduld aller Beteiligten. Die bringen wir in unseren eng getakteten Kalendern und mit den geku?rzten Tagungszeiten nicht immer mit. Verschärft wurde dies in den letzten zwei Jahren dadurch, dass Zentralausschusssitzungen online abgehalten werden mussten. Am Bildschirm funktioniert die Stimmungsabfrage kaum, die Zeitverschiebung und die ungleiche Qualität des Internetanschlusses erschweren gleichberechtigte Partizipation. Das Verfahren kann leichter blockiert oder gar missbraucht werden.
Eine zweite Schwierigkeit des Verfahrens besteht in der Kommunikation nach außen: Ein Konsens, der auf einem partizipativen und auch geistlichen Weg gefunden wurde, wird nicht automatisch von denen verstanden, die diesen Weg nicht mitgegangen sind. Das gilt in besonderem Maße fu?r besonders sensible und polarisierende Themen. Vermutlich wird es auch bei dieser Vollversammlung schwierig sein, die Bedeutung eines erzielten Konsenses in einer Öffentlichkeit zu erklären, in der die Medien vor allem an griffigen, leicht zu vermittelnden und kontroversen Beschlu?ssen interessiert sind.
Schließlich wird immer wieder die Frage gestellt, ob das Konsensverfahren nicht prophetische Entscheidungen verhindere. Vermutlich werden sie die Ausnahme bleiben, aber wenn sie zustande kommen, werden sie mehr Wirkung haben als ein in einer Kampfabstimmung mit knapper Mehrheit verabschiedeter Beschluss, den die Unterlegenen nicht mittragen.
Das Konsensverfahren, wie es zurzeit im ÖRK praktiziert wird, ist nicht einfach der ideale Weg der ökumenischen Entscheidungsfindung, aber es ist ein wertvoller, ja unverzichtbarer Baustein ökumenischer Zusammenarbeit. Es hat immer wieder dazu beigetragen, dass gerade in Kommissionen, in denen Vertrauen gewachsen war, auch der Mut wuchs, "sich in Liebe die Wahrheit zu sagen," und dass ein tiefer Respekt vor der Spiritualität des anderen entstand (Abschlussbericht der Sonderkommission zur Orthodoxen Mitarbeit im ÖRK, S. 80).
Das Verfahren ist ein Baustein in der Vision von einem ökumenischen Rat, "wo die Kirchen ihr Weltbild, ihr soziales Engagement, ihre liturgischen und lehrmäßigen Traditionen hinterfragen und weiter entwickeln können, wo sie einander begegnen und ihr Miteinander vertiefen können;
wo Kirchen die Möglichkeit haben, Netzwerke der Anwaltschaft und der diakonischen Dienste aufzubauen und miteinander materielle Ressourcen zu teilen; wo Kirchen im Dialog daran arbeiten können, die Schranken niederzureißen, die ihnen den Weg zur gegenseitigen Anerkennung als Kirchen versperren …" (Abschlussbericht der Sonderkommission zur Orthodoxen Mitarbeit im ÖRK, S. 81)
In diesem Sinn können wir auch fu?r unsere ökumenischen Gespräche vor Ort davon lernen, wie Menschen aus völlig unterschiedlichen Kontexten, Kulturen und Konfessionen versuchen, gemeinsame Wege zu finden und Zeugnis zu geben von der Liebe Christi die bewegt, versöhnt und eint.
Kirchenrätin Anne Heitmann ist Leiterin der Abteilung fu?r Mission und Ökumene der Evangelischen Landeskirche in Baden. Das Erklär-Stück stellte die Evangelische Mission Weltweit zur Verfügung. evangelisch.de dankt der EMW für die Kooperation.