Und genau das ist das Problem. "Ivie wie Ivie" beschreibt, wie es ist, mit dunkler Hautfarbe in einem Land zu leben, dessen Ureinwohner Weiße sind. Als Sarah Blaßkiewitz vor einigen Jahren das Drehbuch geschrieben hat, war sie so alt wie ihre Titelheldin. Sie hat einen afrikanischen Großvater und ist gebürtige Leipzigerin. Die Vermutung, dass ihr erster Langfilm autobiografische Züge hat, liegt nahe und ist für Debüts ohnehin nicht ungewöhnlich. Die persönliche Betroffenheit birgt aber auch ein Risiko: Meist sind solche Projekte gut gemeint, werden aber von der Last ihrer Botschaft erdrückt.
Davon kann bei hier keine Rede sein; das ist neben dem wichtigen Thema der zweite große Pluspunkt. Endgültig sehenswert wird der bei aller Ernsthaftigkeit oftmals beschwingt inszenierte Film durch die Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen. Bei Lorna Ishema, für diese Rolle mit dem Deutschen Filmpreis als Beste Nebendarstellerin geehrt, ist das keine Überraschung, sie hat schon die ZDF-Serien "Breaking Even" (2020, Neo) und "Der Überfall" (2022) getragen. Haley Louise Jones ist im Grunde auch keine Entdeckung, wurde bislang aber meist in Nebenrollen besetzt. Wie so oft bei (Ko-)Produktionen des Kleinen Fernsehspiels stellt sich die Frage, warum das "Zweite" gerade im Sommer nicht den Mut hat, den Film um 20.15 Uhr auszustrahlen, selbst wenn er mit seiner Länge von 109 Minuten nicht ins Programmgefüge passt; dann hätte ein Millionenpublikum die Chance, sich an Jones’ facettenreicher Verkörperung der Titelfigur zu erfreuen, zumal Blaßkiewitz eine Geschichte erzählt, mit der sich viele Menschen identifizieren können.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ivie ist bei ihrer Mutter (Anneke Kim Sarnau) aufgewachsen, sie hat ihren Erzeuger nie kennengelernt. Eines Tages steht eine fremde Frau vor der Tür: Naomi (Ishema) stellt sich als ihre Halbschwester vor. Der gemeinsame Vater ist gestorben; nun überlegen die beiden Frauen, ob sie zur Beerdigung nach Afrika reisen sollen. Die Begegnung mit Naomi löst einen Prozess aus, in dessen Verlauf sich Ivie zum ersten Mal mit ihrer Herkunft auseinandersetzt. Die Halbschwester, die eine schwarzafrikanische Mutter und daher eine viel dunklere Hautfarbe hat, ist schockiert, wie unbekümmert Ivie auf meist gar nicht böse gemeinte alltägliche Rassismen reagiert. Damit ist die Geschichte bei ihrem Subthema, und hier lauert das Risiko, dass aus der Identitätsfindung eine verfilmte Broschüre wird, die dem weißen Publikum vor Augen führt, was es bislang alles falsch gemacht hat.
Zum Glück war sich Blaßkiewitz dieser Gefahr offenbar bewusst, weshalb sie diese Aspekte zunächst eher beiläufig einstreut: Ivie ist Lehrerin für die Fächer Mathematik und Sport, hat ihr Referendariat absolviert und sucht eine Anstellung. In den Bewerbungsgesprächen geht es jedoch weniger um ihre Qualifikation, sondern vor allem um ihren "Background", wie es mal heißt, regelmäßig verbunden mit der Frage, wo sie herkomme, die natürlich meint: Was sind deine Wurzeln? Das fragt sich Ivie schließlich auch. Auf diese Weise bietet die Handlung einen universell gültigen Anknüpfungspunkt: Wie sehe ich mich selbst, wie sehen mich die anderen? Als Naomi sagt, es ginge auch darum, "unsere Kultur mit Stolz zu vertreten", kann sie ihr gar nicht folgen, sie ist doch Deutsche; aber die Saat ist gelegt. Die Selbstfindung ist jedoch erst mal mit Schmerzen verbunden, und daran hat Naomi einen erheblichen Anteil: Als die Schwester mitbekommt, dass sich Ivie von ihrer besten Freundin Anne (Anne Haug) widerspruchslos "Schoko" nennen lässt, ist sie schockiert ("Nennt du sie auch Vanille?"). Aus ihrer Sicht ist das "positiver Rassismus". Negativen Rassismus schildert Blaßkiewitz ebenfalls, er trifft vor allem Naomi, die unter anderem von zwei Typen angepöbelt wird. Eine Radfahrerin (Luisa-Céline Gaffron) zeigt Zivilcourage, geht dazwischen und ruft die Polizei, die aber offenkundig keinerlei Interesse hat, der Sache nachzugehen.
Endgültig zum Drama wird der vom ZDF im Rahmen der Reihe "Shooting Stars" ausgestrahlte Film, als sich Ivie der Reihe nach mit allen verkracht, die ihr wichtig sind: Anne, ihre Mutter, ihr alter Freund Ingo (Maximilian Brauer), Besitzer des Sonnenstudios, in dem sie jobbt, und schließlich auch Naomi, mit der sie sich sogar ein Rauferei liefert. Filmisch hätte die Regisseurin ruhig etwas mutiger sein können, die Kameraführung (Constanze Schmitt) ist recht statisch.
Die mitunter an Peter Green erinnernde Musik (Jakob Fensch) ist hingegen sehr besonders. Einige Szenen mögen gerade im Hinblick aufs Kernthema überflüssig wirken, aber "Ivie wie Ivie" erzählt eben auch andere Geschichten. Trotzdem sind die Momente, in denen sich Blaßkiewitz auf die Identitätsentwicklung konzentriert, die stärksten, darunter ein Besuch der Titelheldin in einem speziellen Frisiersalon: Der Afro soll ab, weil er "immer im Weg" sei; eine Formulierung, die sich sicher nicht zufällig doppelt deuten lässt. Die Friseurin (Dela Dabulamanz) bringt das nicht übers Herz und schlägt ihr als Kompromiss eine kunstvolle Zopffrisur vor, und eine alte Frau klärt sie über die Bedeutung ihres Namens auf: Ivie heiße "precious", kostbar.