TV-Tipp: "Kids Run"

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9. August, ZDF, 22.45 Uhr
TV-Tipp: "Kids Run"
Um ein Haar wäre die Geschichte nach nur wenigen Augenblicken bereits wieder zu Ende: Im letzten Moment bewahrt ein kleiner Junge seinen Vater davor, im Ring zu sterben.

Zwar nur im Traum, aber immerhin. Das Leben meint es allerdings auch nicht gut mit Andi, den Jannis Niewöhner als tickende Zeitbombe verkörpert: Der einstige Amateurboxer hangelt sich von einem Job zum nächsten, seit er bei seinem letzten Kampf einen Schädelbasisbruch erlitten hat. Einziger Sinn seines Daseins sind die drei Kinder, die er mit ruppiger Zärtlichkeit umsorgt. Weil sich Barbara Ott bei ihrem Regiedebüt nicht mit Erklärungen aufhält, bleibt vieles zunächst ungewiss, erklärt sich später jedoch von selbst, zum Beispiel die Frage, warum die beiden älteren Kinder nicht bei ihrer Mutter leben: Isabel (Carol Schuler) kann offenkundig nicht mal für sich selbst sorgen. Das Sorgerecht für Baby Fiou teilt sich Andi mit seiner Ex-Freundin Sonja (Lena Tronina). Er liebt sie immer noch und wünscht sich einen Neuanfang, aber die Dinge entwickeln sich in eine völlig andere Richtung: Sonja hat ihm ein paar tausend Euro geliehen, damit er seine Mietschulden bezahlen kann. Das Geld will sie nun zurück, andernfalls wird er Fiou nicht mehr wiedersehen. Sie hat ohnehin einen neuen Freund, der sichtlich nicht von der Hand in den Mund lebt, und will mit ihm fortgehen.

"Kids Run" spielt in Umgebungen, die in den Mittel- und Oberschichtsgeschichten von ARD und ZDF nur selten zu sehen sind. Entsprechend haben Ott und ihr Kameramann Falco Lachmund auch die blaugrauen, konsequent unbunten Bilder gestaltet: Sie wirken dreckig, roh und ungeschliffen, Innen- wie Außenaufnahmen strahlen keinerlei Wohlbehagen aus, und wenn zu Beginn, als sich Andi nach dem üblichen Stress mit den Kindern auf den Weg zu seiner Hilfsarbeit macht, auch noch Morgennebel durch die Stadt zieht, ist die Tristesse ähnlich vollkommen wie später, wenn schmuddeliger Schneematsch die Bürgersteige bedeckt. Dazu passt, wie Niewöhner seine Rolle angelegt hat. Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass sich ein derart gefragter Schauspieler für eine derart kleine Produktion entschieden hat, aber die Rolle bietet einen großen Facettenreichtum und ist daher eine echte Herausforderung, von den ausgezeichnet choreografierten Boxszenen ganz zu schweigen. 

Gerade dieses Element steht für den Mut der Regisseurin, immerhin muss ihr Film den Vergleich mit weltberühmten Vorbildern bestehen. Plakativ, aber wirkungsvoll schneidet sie von einem illegalen Kampf, bei dem Andi wie von Sinnen auf seinen unterlegenen Gegner eindrischt, auf einen Vorschlaghammer (er arbeitet für einen Abbruchtrupp). Bei den Kämpfen kann Niewöhner zeigen, was physisch in ihm steckt, aber erst im Verhältnis zu den Kindern offenbart sich Andis Zerrissenheit: Sie sind letztlich sein einziger Lebensinhalt, aber auch ein Klotz am Bein. Er hat selten ein gutes Wort für sie, und mitunter bewegt er sich nah an der Handgreiflichkeit, weil sich Nikki und Ronny (Eline Doenst, Giuseppe Bonvisutto), beide im Grundschulalter, anscheinend ebenso wenig ein- oder gar unterordnen können wie ihr Vater. Andererseits erlebt er mit ihnen die wenigen Momente der Ruhe, die ihm Ott gönnt. 

Die beiden Kinder wirken genauso authentisch wie der gesamte Film, die Kasachin Lena Tronina ist ein interessantes neues Gesicht. Wie gut schon das Drehbuch gewesen muss, zeigt die Besetzung zum Teil winziger Rollen mit gefragten Mitwirkenden, darunter Peter Schneider als Hausverwalter, Ronald Kukulies als Vorarbeiter und Sascha Alexander Geršak als Andis väterlicher Freund Mikael, der ihm dringend vom geplanten Comeback abrät: Andi entdeckt ein Werbeplakat für einen Boxwettbewerb. Er ist überzeugt: Wenn er das mit 5.000 Euro dotierte Turnier gewinnt, wird sich a Sonja wieder für ihn entscheiden. Mikael ahnt, dass Andi mit der Rückkehr in den Ring sein Leben riskiert; prompt schließt sich der Kreis zum Auftakt. 

Dass Ott die Geschichte zwar offen, aber dennoch zumindest nicht ohne Hoffnungsschimmer enden lässt, ist gemessen am Realismus der hundert Minuten zuvor ein beinahe märchenhafter Schluss. Die Regisseurin hat nach ihrem bereits 2018 entstandenen Debüt für das ZDF vier Folgen für "Deadlines" (2021 bei Neo) gedreht, eine erfrischend boshafte und politisch unkorrekte Dramedy-Serie über vier Frankfurter Freundinnen, die vor wichtigen Entscheidungen stehen. Ihre jüngste Arbeit ist das für Netflix entstandene Freundinnendrama "Für Jojo" (2022). Das ZDF zeigt "Kids Run" zum Auftakt seiner diesjährigen "Shooting Stars"-Debütreihe.