Der "Polizeiruf" aus München war schon immer mehr als bloß ein gewöhnlicher Sonntagskrimi. Dass der Bayerische Rundfunk diese Tradition mit Verena Altenberger als Bessie Eyckhoff unbedingt fortsetzen wollte, haben schon die Titel der ersten beiden Filme verdeutlicht: "Der Ort, von dem Wolken kommen" und "Die Lüge, die wir Zukunft nennen" (beide 2019). Der im letzten Jahr erstmals ausgestrahlte dritte heißt "Frau Schrödingers Katze" und bezieht sich auf ein faszinierendes Gedankenexperiment, das der Wiener Physiker und Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger 1935 im Zusammenhang mit der Quantenmechanik beschrieben hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Sehr vereinfacht läuft es auf das Paradoxon hinaus, dass eine Katze gleichzeitig tot und lebendig ist: Das Tier befindet sich zusammen mit einer tödlichen radioaktiven Substanz in einer Kiste. Nach menschlichem Ermessen ist es tot, aber solange niemand nachschaut, muss man davon ausgehen, dass es noch lebt. Erst das Öffnen der Kiste zwingt das Universum gewissermaßen dazu, eine Entscheidung zu treffen. Schrödinger wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ein Beobachter stets ungewollt Einfluss auf ein Experiment hat; aber wer hätte gedacht, dass sich auf dieser Basis ein Krimi konstruieren lässt?
Natürlich würde "Frau Schrödingers Katze" auch ohne diesen Hintergrund funktionieren, und es sind keinerlei Vorkenntnisse in Quantenphysik nötig, um der Handlung zu folgen; außerdem orientiert sich jeder zweite Krimi an Werner Heisenbergs quantenmechanischer Erkenntnis, dass in der Natur alles auf subtile Weise miteinander verbunden sei. Auch Clemens Schönborns Geschichte läuft darauf hinaus, dass jede Tat, ob gut oder böse, stets Konsequenzen hat, die der oder die Handelnde lieber vermieden hätte.
In diesem Fall muss Bessie erkennen, dass ihr Eingreifen eine Reihe von Todesfällen ausgelöst hat: Als Johanna Schrödinger (Ilse Neubauer) auf der Wache erscheint, weil sie ihre Katze vermisst, will der etwas arbeitsscheue Kollege Eden (Stephan Zinner) die Frau abwimmeln. Die hilfsbereite Bessie reagiert ganz anders: Sie bringt Frau Schrödinger heim und verteilt Suchanzeigen.
Natürlich kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass sie der alten Dame damit letztlich das Leben rettet, denn deren Haushaltshilfe Karin Meyer (Lilly Forgách) will sich Frau Schrödingers Haus unter den Nagel reißen; eine gefälschte Schenkungsurkunde gibt es bereits. Um den Vorgang zu beschleunigen, tauscht sie die Herztabletten gegen Traubenzucker aus. Aber dann nehmen die Ereignisse eine eigene Dynamik an, weil noch weitere Zeitgenossen die Möglichkeit erkennen, mit wenig Aufwand an viel Geld zu gelangen; prompt entsteht eine regelrechte Todesspirale.
Clemens Schönborn hat seinen speziellen Humor schon mit "Hit Mom - Mörderische Weihnachten" (2017) bewiesen; der Film war eine pechschwarze Komödie mit Anneke Kim Sarnau als Reinigungskraft, die durch Zufall Profikiller wird. Auch in "Frau Schrödingers Katze" ändern unvorhersehbare Vorfälle immer wieder den Verlauf der Handlung. Dazu gehört unter anderem eine witzig eingefädelte Romanze: Als Bessie die Steckbriefe aufhängt, verpasst ein Mann die Straßenbahn, weil er sich angesichts der Polizistin nicht traut, die rote Fußgängerampel zu ignorieren.
In einem Imbiss treffen sie sich wieder, und es entspinnt sich ein Gespräch über Quantenphysik, bei dem Bessie verblüffende Kenntnisse beweist. Der Mann ist Physiker und leider nur vorübergehend in der Stadt, was sehr bedauerlich ist, denn die Chemie nicht nur zwischen Adam und Bessie, sondern auch zwischen Camill Jammal und Verena Altenberger funktioniert prächtig. Adam ist es auch, der Bessie ungewollt auf die richtige Spur führt: Sie muss bloß die Katzenkiste öffnen, und zwar buchstäblich. Das Tier heißt übrigens Pandora.
Natürlich stellt es eine gewisse Zumutung an die Glaubwürdigkeit dar, dass eine Polizistin kompetent über einen Physikbereich fachsimpeln kann, den selbst viele Physiker nicht richtig durchschauen. Andererseits ist Bessie Eyckhoff keine Ermittlerin wie die meisten anderen, selbst wenn sich das im Arbeitsalltag meist nur darin äußert, dass sie in einer ganz anderen Liga spielt als die Kollegen; ihr Chef (Heinz-Josef Braun) zum Beispiel ist ein Kleingeist, dem die kluge Eigeninitiative der Polizeiobermeisterin nicht geheuer ist.
Regie führte Oliver Haffner, "Frau Schrödingers Katze" ist seine erste Arbeit fürs Fernsehen und sein erster Krimi; zuletzt hat er mit "Wackersdorf" (2018) jenem aufmüpfigen Landrat filmisches Denkmal gesetzt, der in den Achtzigern den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in der Oberpfalz verhindert hat. Nicht minder sehenswert war seine Tragikomödie "Ein Geschenk der Götter" über eine arbeitslose Bühnendarstellerin, die einen Schauspielkurs mit Langzeitarbeitslosen veranstaltet.
Sein TV-Debüt beginnt wie ein gemütlicher Familienkrimi, nimmt aber gerade wegen der von Lilly Forgách als durch und durch böse Person verkörperten Haushaltshilfe immer unheilvollere Züge an, wobei die unglückliche Verkettung der Ereignisse mitunter durchaus tragikomische Züge trägt. Die Geschichte spielt im Ortsteil Sendling, Haffner ist in Obersendling aufgewachsen, weshalb der Film nebenbei auch eine Milieustudie geworden ist.