Zehn Jahre hat Thomas Kirchner seine kreative Schaffenskraft dem "Spreewaldkrimi" gewidmet. Zumindest aus künstlerischer Sicht hat sich das gelohnt: Dank der kunstvoll verschachtelten Drehbücher mit ihren vielen Zeitsprüngen gehört die 2012 gestartete ZDF-Reihe zum Besten, was das deutsche Fernsehen in diesem Genre zu bieten hat. "Totentanz" (2021) war Kirchners vorerst letzter Beitrag. Sollte er sich zurückgezogen haben, um fortan Krimis wie den vierten Fall für Heike Makatsch als Mainzer "Tatort"-Kommissarin Ellen Berlinger zu schreiben, wäre das höchst bedauerlich.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ein Film lässt zwar nur bedingt Rückschlüsse auf die Qualität eines Drehbuchs zu, aber gemessen an den "Spreewaldkrimis" ist "In seinen Augen" mindestens eine Liga tiefer anzusiedeln. Kirchner, 2013 für seine Adaption des Tellkamp-Romans "Der Turm" mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, bleibt zwar seinem Markenzeichen treu und lässt die Handlung munter zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her hüpfen, aber mitunter wirkt der Krimi, als habe jemand seinen Stil kopiert und wolle auf diese Weise kaschieren, wie simpel die Handlung im Grunde ist. Der Film ist nach zwei guten Mainz-Krimis ähnlich enttäuschend wie der Makatsch-Auftakt 2016 (damals noch in Freiburg).
Kirchner bedient sich eines beliebten Krimimotivs: Eine vermögende ältere Frau ist durch ein Missgeschick ums Leben gekommen, allem Anschein nach hat sie sich bei der Insulindosis vertan. Berlinger hat jedoch so eine Ahnung, dass beim Ableben von Bibiana Dubinski (Ulrike Krumbiegel) eine weitere Person beteiligt war, und als sie in der Villa der Toten auf die beste Freundin Charlotte (Michaela May) und deren deutlich jüngeren Liebhaber (Klaus Steinbacher) trifft, wird ihre Vermutung zur Gewissheit. Mit dem ersten Blick stellt sie fest, dass der Mann im Gefängnis war, mit dem zweiten erkennt sie in seinen Augen "Gewaltbereitschaft, Gerissenheit und Angst": die Angst, erwischt zu werden.
Staatsanwältin Winterstein (Abak Safaei-Rad) pfeift die Polizistin jedoch zurück: Aus ihrer Sicht gibt es keinerlei Anfangsverdacht. Natürlich lässt Berlinger trotzdem nicht locker, und weil Kollege Rascher (Sebastian Blomberg) weiß, dass er sich auf das Gespür seiner Partnerin verlassen darf, hält er ihr den Rücken frei.
Das klingt nicht besonders aufregend, woran auch die Umsetzung nichts ändert. Viel zu selten ist der Film so lakonisch wie der Auftakt: Die ersten Bilder zeigen Charlotte, wie sie Abschied von ihrem Lebensgefährten nimmt, doch verblichen ist nicht etwa der Gatte – der ist schon länger tot –, sondern ihr geliebter Vierbeiner, wie ein schlichter Schnitt offenbart. Hier, im Tierkrematorium, hat sie auch Hannes Petzold kennengelernt, Berlingers Verdächtigen. Bewegung kommt aber erst in die Handlung, als Kirchner eine weitere Figur einführt; nun wird auch klar, welche Rolle das scheinbar allzu ausführlich geschilderte Privatleben der Staatsanwältin spielt.
Aus all’ dem hätte ein solider Sonntagskrimi werden können, zumal die Beziehung zwischen der Witwe und dem jungen Mann durchaus anrührend ist, selbst wenn die gegenseitige Innigkeit Petzold nicht davon abhält, auch mit Bibiana ein Verhältnis zu beginnen.
Klaus Steinbacher ist eine sehr gute Besetzung für diese Rolle, weil er sie erfolgreich in der Schwebe hält: Die Gefühle des wegen Körperverletzung und Betrugs verurteilten Ex-Häftlings scheinen echt zu sein, aber es braucht nicht viel, um seine Sicherungen durchbrennen zu lassen. Allerdings ist der Film von der optischen Kunstfertigkeit der "Spreewaldkrimis", die sich stets auch durch ein eindrucksvolles handwerkliches Niveau auszeichnen, weit entfernt.
Dabei sind die Arbeiten des mit einigen Preisen ausgezeichneten Regisseurs Tim Trageser in der Regel sehenswert und manchmal auch mehr als das, etwa das Mobbing-Drama "Neufeld, mitkommen!" (2014) oder "Der weiße Äthiopier" nach Ferdinand von Schirach (2016). Für den "Tatort" aus Münster hat der Regisseur einige vortreffliche Episoden gedreht.
Umso erstaunlicher sind diesmal die darstellerischen Schwächen nicht nur, aber auch der erfahrenen Mitwirkenden. Einige Dialogszenen wirken, gelinde gesagt, unglücklich, zumal es ohnehin nicht besonders einfallsreich ist, wenn die Mitglieder eines Teams das Offensichtliche benennen müssen oder sich gegenseitig erzählen, was sie selbst schon wissen, damit auch das Publikum auf dem aktuellen Stand der Ermittlungen ist. Immerhin zaubert Kirchner am Ende noch einen kleinen Knüller aus dem Hut.