Deutsche Filme über die großen Finanzskandale der jüngeren Geschichte sind bislang meist aus der Sicht junger Männer erzählt worden. Das Muster war stets ähnlich: Der jugendliche Held gerät in den Bann eines charismatischen Verführers, merkt aber gerade noch rechtzeitig, dass er sich auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hat. An dieser Dramaturgie orientierten sich neben Dieter Wedels Zweiteiler "Gier" (2010) mit Devid Striesow unter anderem auch Urs Eggers Drama "Der Bankraub" (2016) mit Franz Dinda oder "Dead Man Working" (2016) mit Benjamin Lillie.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch der Grimme-Preisträger von Eva und Volker A. Zahn ("Ihr könnt euch niemals sicher sein", 2008) über die Herstatt-Pleite Mitte der Siebziger stellt endlich mal eine junge Frau in den Mittelpunkt: Marie Breuer (Michelle Barthel) wird 1973 Sekretärin des stellvertretenden Herstatt-Direktors. Das Kölner Geldinstitut war seinerzeit die größte deutsche Privatbank und machte an guten Tagen 500 Millionen Mark Umsatz.
Großer Zampano des Hauses ist der junge Devisenhändler Mick Sommer (Tim Oliver Schultz). Seine Kollegen und er, intern die "Goldjungs" genannt, jonglieren mit für damalige Verhältnisse astronomischen Summen; ein Tanz auf dem Vulkan, wie sich schließlich rausstellt, denn Micks Machenschaften entpuppen sich als eine Blaupause für nahezu alle späteren Finanzskandale. Das kann die brave Marie natürlich nicht ahnen, als sie ihm erst ihr Herz und dann die Ersparnisse ihrer Mutter anvertraut, weil sie den Verlockungen des Finanzkapitalismus erliegt. Unter den Angestellten herrscht eine regelrechte Casino-Mentalität; auch Marie investiert schließlich eine riesige Summe.
Für Michelle Barthel ist das eine tolle Rolle, denn Marie beginnt prompt eine Metamorphose, als Micks Glanz auf sie fällt. Erst vollzieht sich der Wandel dank Make-up und gewagter Kleidung nur äußerlich, dann entwickelt sie ein immer größeres Selbstbewusstsein. Auch Tim Oliver Schultz passt gut zu diesem Vorläufer der späteren "Masters of the Universe", selbst wenn sämtlichen Filmen dieser Art anzusehen ist, dass die männlichen Hauptdarsteller die Genreklassiker "Wall Street" (1987, 2010) von Oliver Stone und "Wolf of Wall Street" (2013) von Martin Scorsese studiert haben.
Tagsüber geben sich Mick und seine Kollegen dem Rausch der Spekulation hin, abends holen sie sich den Kick durch Sex, Drogen und Alkohol. Anders als Raymond Leys Film über die Folgen der Lehman-Pleite für deutsche Kleinanleger ("Lehman. Gier frisst Herz", 2018) oder sein Dokudrama "Der große Fake" über den Wirecard-Betrug (2021) hat das Ehepaar Zahn das Drehbuch als Tragikomödie konzipiert. "Goldjungs" ist daher ungleich unterhaltsamer, zumal sich Menschen, die ihre Jugend in den Siebzigern verbracht haben, sehr über die Auswahl der Rock- und Pop-Hits jener Jahre freuen werden.
Gelungen ist zudem die Gratwanderung bei den Nebenfiguren, die auch dank der Ensembleführung durch Regisseur Christoph Schnee nicht zur Karikatur werden. Ein besonderes Vergnügen ist Waldemar Kobus als Direktor und Namensgeber der Bank: eine typische rheinische Frohnatur, die die Detailarbeit gern anderen überlässt, zumal der Mann am Schreibtisch regelmäßig von rätselhaften Schlafattacken heimgesucht wird. Perfekt besetzt ist auch das Ehepaar Gerling mit Leslie Malton und Martin Brambach. Versicherungsunternehmer Hans Gerling war der Besitzer der Bank.
Der einzige, der sich gegen den drohenden Untergang stemmt, ist der interne Revisor Lennartz (Jan Krauter): Er weiß, dass die Devisenhändler irgendwas mauscheln, kann ihnen aber nichts nachweisen, weil die Spekulationen dank einer Computermanipulation gar nicht erst in der Buchhaltung auftauchen.
Neben Kostüm, Ausstattung, Musik und gelegentlichen dokumentarischen Ausschnitten sorgt auch der Drehort für Zeitkolorit: Schnee durfte im Gebäude der ebenfalls pleite gegangenen Kölner Privatbank Sal. Oppenheim drehen. Der Regisseur hat zuletzt lauter sehenswerte Filme gemacht, allen voran "Matze, Kebab und Sauerkraut" (2020), eine mitreißende romantische Multikulti-Komödie über einen Juden und einen Moslem aus Berlin, die sich in eine blonde Christin aus Bayern verlieben. Auch "Größer als im Fernsehen" war Vergnügen mit Tiefgang: Die Komödie mit Janina Fautz kombinierte ein heiteres Märchen mit Kritik am Privatfernsehen.
Eva und Volker A. Zahn stehen gleichfalls für TV-Qualität, erst recht, wenn es um zeitgeschichtliche Stoffe geht. Zu ihren Werken zählen unter anderem "Das Leben danach" (2017); für das herausragende Drama mit Jella Haase als junge Frau, die als Überlebende der Duisburger Love-Parade auch Jahre später kein normales Leben mehr führen kann, hat das Drehbuchduo den Robert Geisendörfer Preis bekommen. Es folgte "Was wir wussten – Risiko Pille" (2019), ein fesselnder Tatsachenfilm über die Gefahren der Anti-Baby-Pille.
"Goldjungs" ist eine Produktion der Kölner Firma Zeitsprung Pictures, die so etwas wie die Chronistin der westdeutschen Geschichte ist; das Spektrum der vielfach ausgezeichneten TV-Filme umfasst unter anderem "Das Wunder von Lengede" (2003, Sat.1), "Contergan" (2006, ARD), "Frau Böhm sagt nein" (2009, ARD), "Beate Uhse – Das Recht auf Liebe" (2011, ZDF), "Duell der Brüder" (2016, RTL) über die Gründer von Puma und adidas, "Der Fall Barschel" (2016, ARD) sowie "Der König von Köln" (2019, ARD), eine Satire über Karneval, Kölsch und Korruption.