Die Kommissarin aus Köln hat sich mittlerweile in eine ganz normale Ermittlerin verwandelt, wie der Vergleich mit den beiden Filmen aus der Anfangszeit belegt, die der ZDF-Ableger Neo heute wiederholt.
In "Marie Brand und der Charme des Bösen" bekommt es die Titelheldin mit einem Gegenspieler zu tun, der ihr beinahe ebenbürtig ist: Ulf Tilmann (Harald Krassnitzer) fühlt sich der Polizei haushoch überlegen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zunächst ist der enorm erfolgreiche Wirtschaftsanwalt allem Anschein nach jedoch vor allem Opfer: Er soll mit Hilfe einer Autobombe ermordet werden; der Anschlag trifft allerdings eine Mitarbeiterin. Feinde hat er genug: Der Jurist ist Experte für Unternehmensrationalisierungen und eine Art Guru all jener Firmenchefs, die unbequeme Mitarbeiter loswerden wollen. Tatsächlich ist der Täter alsbald gefunden: Ein Mann (Tilo Prückner) gibt dem Anwalt die Schuld am Freitod seiner Frau. Er droht, sich, Marie Brandt und ihren Kollegen Simmel (Hinnerk Schönemann) in die Luft zu jagen und schießt sich dann eine Kugel in den Kopf. Der Fall ist geklärt, der neue Leiter (Thomas Heinze) der Mordkommission will die Akten schließen. Bloß Marie bleibt skeptisch.
Bereits in diesem zweiten Film der Reihe wirken Millowitsch und Schönemann erstaunlich eingespielt, zumal sie auf geradezu liebevolle Weise ihre typischen Eigenschaften vertiefen. Das gilt vor allem für Schönemann, der Jürgen Simmel hingebungsvoll als leicht zu durchschauenden Proll mit Polizeimarke verkörpert. Entsprechend verblüfft ist man, wenn der zu maßloser Selbstüberschätzung neigende Ermittler am Ende eine Falle stellt, in die das Publikum genauso hineintappt wie der charismatische Anwalt. Den wiederum spielt Harald Krassnitzer in der Tat mit jenem diabolisch manipulativen Charme, den der Titel verspricht.
Richtig gute darstellerische Leistungen sind in der Regel eine Frage von Drehbuch (Alexander Adolph und Eva Wehrum) und Regie (Christoph Schnee), und auch in dieser Hinsicht ist "Marie und der Charme des Bösen" herausragend. Gerade weil Maries analytischem Blick kaum ein Detail entgeht, muss sich der Film natürlich mit dem gleichen Maßstab messen lassen, was er problemlos übersteht. Umso schöner, dass es auch Szenen wie jene gibt, in der Marie einen Jungen beeindrucken will und ihrem Kollegen ein Zwei-Euro-Stück aus dem Ohr zaubert. Als der Junge einen Hunderter fordert, muss Marie passen, aber Simmel rettet die Situation, indem er erklärt, er habe ohnehin nur Kleingeld im Kopf.
Der zweite Film des Abends, "Marie Brand und die Nacht der Vergeltung" (22.30 Uhr), handelt von Familiendrama. Allerdings scheint es zunächst gar keinen Fall zu geben: Eine eifersüchtige Unternehmergattin hat offenbar erst ihren Mann und seine Geliebte und dann sich selbst getötet. Nur Marie Brand ist skeptisch: Mit einem Blick hat sie erkannt, dass die tote Linkshänderin war; doch die Waffe liegt neben ihrer rechten Hand. Erneut erweist sich die Absicht des Vorgesetzten, die Akte zu schließen, als voreilig. Auch die im Rahmen der Reihe dritte Episode bezieht ihren Reiz daraus, dass Millowitsch und Schönemann überhaupt nicht zusammenpassen und sich daher vortrefflich ergänzen. Deshalb störte anfangs auch nicht weiter, was sich in späteren Filmen als Problem erweisen sollte, denn zunächst war das Rollenmuster noch originell und witzig: Schönemann als leicht dumpfbackiger, aber irgendwie trotzdem liebenswerter Möchtegern-Playboy, Millowitsch als patente Frau mit Herz und rascher Auffassungsaufgabe; dass Marie Brand geniale Züge hat, glaubt man ihr sofort. Umso verblüffender ist es, wenn vor allem Schönemann das Rollenklischee durchbricht. Noch hübscher sind trotzdem die Momente, wenn er als Simmel wieder mal so herrlich indigniert dreinblickt, weil er im Vergleich zur hochbegabten Kollegin ein ganz kleines Licht ist.
Die eigentliche Geschichte (Buch: Nils Morten Osburg, Eckehard Ziedrich) ist weniger hinreißend, weil sich die Inszenierung (Manuel Siebenmann) allzu sehr am Klischee der millionenschweren Dekadenz ergötzt: Marek Harloff und Meret Becker spielen Sohn und Tochter des toten Ehepaars Seibt wie nie erwachsen gewordene, trotzige Kinder, denen man sofort eine inzestuöse Beziehung unterstellt; die stereotype Darstellung soll die beiden vermutlich verdächtig machen. Tatsächlich hätte Schwiegersohn Probst (Harald Schrott) viel bessere Motive: Seibt senior wollte das marode Unternehmen versilbern; der potenzielle Käufer macht keinen Hehl daraus, dass er Probst als Marketingchef nicht übernommen hätte.
Interessant wird die Handlung, als der Sohn (Enno Hesse) eines Detektivs ins Spiel kommt: Er sollte Seibt und seine Geliebte beschatten, hat sich dabei in die junge Frau verliebt und war womöglich Zeuge des Mordes. Die entsprechenden Bilder offenbaren allerdings einen Lapsus des Drehbuchs: Ausgerechnet jenes Detail, das Marie zu Beginn aufgefallen ist, spielt plötzlich gar keine Rolle mehr. Das ist aber egal, weil Millowitsch und Schönemann so ein großartiges Team abgeben; und weil Kameramann Daniel Koppelkamm eine ganze Reihe wundervoll fotografierter Einstellungen gelungen sind.