Am Anfang standen die Proteste gegen den Schah-Besuch, dann folgten Brandstiftungen in Frankfurter Kaufhäusern und schließlich die Gründung der RAF. In ihrem Film "Und morgen die ganze Welt" beschreibt Julia von Heinz eine ganz ähnliche Radikalisierung: Die Mannheimer Jura-Studentin Luisa (Mala Emde) folgt ihrer Schulfreundin Batte (Luisa-Céline Gaffron) in eine politische Hausgemeinschaft. Angesichts des Erfolgs einer unschwer als AfD erkenntlichen Partei sind sich die WG-Mitglieder einig, das stiller Widerstand nicht mehr genügt. Als sie eine Kundgebung der rechtsextremistischen "Liste 14" stören, kommt es zu Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf Luisa das Telefon eines Mannes vom rechtsradikalen Sicherheitspersonal der Partei erbeutet. Im Chatverlauf findet sich der Hinweis auf ein Treffen der Neo-Nazis. Die Linken begnügen sich zunächst damit, ihre Autos zu demolieren, beschließen dann jedoch, den Männern und Frauen eine Abreibung zu verpassen; die Bereitschaft, Gewalt gegen Menschen anzuwenden, markiert den endgültigen Unschuldsverlust.
Julia von Heinz (Buch und Regie) hat ihren Film ähnlich konzipiert wie Bernd Eichinger und Uli Edel "Der Baader Meinhof Komplex" (2008): "Und morgen die ganze Welt" erzählt episodisch, wie sich Luisa wandelt. Ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein hat das Mädchen aus adligem Elternhaus auch zu Beginn, aber erst die Auseinandersetzung mit dem Nazi-Typen, der ihr zwischen die Beine greift, weckt eine Wut in ihr, von der sie vielleicht gar nichts wusste. Als der bis dahin als gemeinnützig geltende Antifa-Verein als erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit betrachtet und somit quasi zur kriminellen Vereinigung erklärt wird, halten sich Luisa und Alfa an die klassische Sponti-Devise "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht." Darin liegt angesichts der zunehmenden Bereitschaft radikaler Klimaschützer zu Sabotage und Sachbeschädigung ("grüne RAF") ein womöglich noch größerer Bezug zur Aktualität als auf der politischen Ebene.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Trotz dieser Komponente erzählt das durch eigene Erfahrungen der Filmemacherin inspirierte Drehbuch letztlich eine klassische "Coming of Age"-Geschichte: Luisa sucht ihren Platz im Leben. Anders als bei den RAF-Mitgliedern ist ihr Engagement kein Protest gegen ihre Herkunft, im Gegenteil; sie hat ein liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern (Victoria Trauttmansdorff, Michael Wittenborn). Die junge Frau ist alles andere als eine Mitläuferin, aber ihre Liebe zu Alfa, den sie schließlich sogar überflügelt, trägt sicherlich zur Metamorphose bei. Vermutlich liegt in dieser Perspektive auch die Erklärung dafür, dass die Politik etwas kurz kommt, obwohl sie permanent präsent ist. Diese Oberflächlichkeit hat zur Folge, dass sich Rechts und Links in der Wahl ihrer Mittel kaum voneinander unterscheiden; beim Auftritt eines rechten Liedermachers erklingen sogar Parolen ("Für ein Leben im Widerstand"), die auch die Linken für sich reklamieren würden.
Sehenswert ist "Und morgen die ganze Welt" daher einerseits bildgestalterisch, weil die Kamera (Felix Poplawsky) ständig mitten im Getümmel ist, aber vor allem schauspielerisch. Mala Emde, 2015 im Rahmen des Bayerischen Fernsehpreises mit dem Nachwuchsförderpreis für ihre Titelrolle in dem Doku-Drama "Meine Tochter Anne Frank" geehrt, wurde 2020 bei den Filmfestspielen in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet. Ähnlich prägnant ist Noah Saavedra; der Österreicher hat im hiesigen Fernsehen schon mit "Lotte am Bauhaus" (2019) und der zweiten "Bad Banks"-Staffel (2020) bleibende Spuren hinterlassen. Eine echte Entdeckung ist Tonio Schneider als Lenor. Der Dritte im Bunde fühlt sich angesichts der Gefühle zwischen Luisa und Alfa zunehmend überflüssig und hat anders als die beiden zudem keine Exit-Strategie: Luisa und Alfa sind noch nicht aktenkundig geworden und können daher jederzeit in ihr früheres Leben zurückkehren. Eine weitere wichtige Rolle spielt Andreas Lust. Der Österreicher war bereits Hauptdarsteller in Heinz’ bislang einzigem Krimi: "Für immer und dich" (2019), ein Schwarzwald-"Tatort", erzählte von der tragischen Liebesgeschichte zwischen einem Erwachsenen und einem Teenager. In "Und morgen die ganze Welt" verkörpert er einen linken Veteranen, dessen Widerstandskraft nach fünf Jahren im Gefängnis gebrochen ist, und somit einen Lebensentwurf, der Luisa auch blühen könnte.
Heinz hat gesagt, das Politdrama sei der Grund gewesen, warum sie überhaupt Filmemacherin geworden sei. Ihr bislang größter Erfolg war die Verfilmung von Hape Kerkelings Bestseller "Ich bin dann mal weg" (2015). Der Film hatte immerhin fast zwei Millionen Kinobesucher; "eine Auftragsarbeit", sagt die Regisseurin heute lapidar. Vermutlich dürfte "Katharina Luther" (2017) ihr wichtiger gewesen sein; anlässlich des Luther-Jahres hatte die ARD mit diesem sehenswerten und ästhetisch ungewöhnlichen Porträtfilm nicht etwa den Reformator, sondern dessen Frau gewürdigt. Zuletzt hat Heinz für die ARD die nach Weihnachten 2021 ausgestrahlte Serie "Eldorado KaDeWe" gedreht.