Die Ermittler wurden gerade auch dank einer zunehmend von Häme geprägten Berichterstattung als Deppen der Nation zur allgemeinen Erheiterung freigegeben. Der in der Öffentlichkeit alsbald bloß noch "Dagobert" genannte Berliner Grafiker avancierte dagegen zum Volkshelden. Der Spitzname bezog sich auf seine Aufforderung, die Bereitschaft zur Zahlung des Lösegelds durch eine Zeitungsanzeige mit dem Text "Dagobert grüßt seinen Neffen" zu signalisieren, eine Anspielung auf den Geizhals aus den Disney-Comics. Dabei waren Funkes Aktionen durchaus ernst zu nehmen. Seine Bomben richteten in den verschiedenen Karstadtfilialen zum Teil erhebliche Verwüstungen an; allerdings hat er stets darauf geachtet, dass dabei niemand verletzt wurde.
Selbst in den Kreisen der Polizei gab es eine gewisse Bewunderung für den Verbrecher, weil seine Pläne für die Übergabe des Geldes regelmäßig höchst raffiniert und technisch zum Teil brillant waren. Dass sie nicht funktionierten, hatte zumeist andere Gründe.
Autor:inTilmann P. GangloffTilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Fernsehen hat sich Funke schon mehrfach gewidmet. Bereits 1994 hat Roland Suso Richter den Kinofilm "Das Phantom – Die Jagd nach Dagobert" gedreht; Hauptfigur war allerdings nicht der Erpresser, sondern der von Dieter Pfaff verkörperte leitende Ermittler. Später folgten Dokumentationen von SWR und Spiegel TV.
Anlässlich des Jahrestages – die erste Bombe explodierte am 13. Juni 1992 in Hamburg – hat der RBB nun eine dreiteilige Reihe produziert. Die ARD zeigt jedoch bloß eine 45minütige Kurzfassung. Wer sich für die ganze Geschichte interessiert, sollte sich unbedingt in der Mediathek die insgesamt gut neunzig Minuten dauernde Langversion anschauen, zumal sich Tim Evers darin auch viel Zeit für die typische Atmosphäre der frühen Neunziger nimmt: Nach der Wiedervereinigung war nicht nur Berlin im Aufbruch. In der westdeutschen Wirtschaft herrschte eine regelrechte Goldgräberstimmung, und Funke wollte einen Teil vom Kuchen haben.
Evers hat viele Gespräche mit allen möglichen Beteiligten geführt, aber zwei stehen eindeutig im Zentrum. Funke selbst, der bereits 1988 mit der gleichen Masche eine halbe Million Mark erbeutet hatte, darf seine Sicht der Ereignisse aus dem Off schildern, er bleibt also gewissermaßen das "Phantom"; allerdings ist er in Ausschnitten aus einer der früheren Sendungen zu sehen. Er spricht über seine Depression und will offenkundig eine sogenannte Täter/Opfer-Umkehr erreichen. Immerhin hat der Autor dem Erpresser, dessen Bomben Schäden in Höhe von geschätzten zehn Millionen Mark angerichtet haben, nicht allein die Deutungshoheit überlassen: Sein Gegenspieler kommt ähnlich ausführlich zu Wort. Michael Daleki, ehemaliger Leiter des LKA-Hamburg, ist damals als "Dagobert-Jäger" bekannt geworden und war verständlicherweise nicht amüsiert, als er im Fernsehen nach einer der vielen Pannen zu Donald Duck verballhornt wurde. Die kriminalistischen Details sind ähnlich spannend wie Funkes Erzählungen.
Sehr aufschlussreich sind auch die Gespräche mit Journalisten, die maßgeblichen Anteil an der Heroisierung des Erpressers hatten. Ein früherer Karstadt-Mitarbeiter macht allerdings deutlich, dass die Angelegenheit für die Angestellten, die ihre Filialen kurz vor Feierabend nach zurückgelassenen Rucksäcken oder Ähnlichem durchsuchen musste, kein Spaß war.
Anders als die im "Ersten" gezeigte Version kommt die Langfassung ohne Kommentar aus. Die ARD wirbt zwar mit dem modischen Etikett "True Crime History", aber im Grunde ist "Jagd auf Dagobert – Vom Verbrecher zum Volkshelden" ein klassischer Dokumentarfilm, dessen Reiz nicht zuletzt aus dem Zeitreiseeffekt resultiert: Ausschnitte aus Nachrichten und Reportagen sowie eine treffende zeitgenössische Musikauswahl wecken umgehend das passende Gefühl für jene Jahre.
Während das berühmte Titelmotiv aus Jerry Goldsmiths Komposition zu "Basic Instinct" für ein bisschen Thriller-Atmosphäre sorgt, passt "Millionär" von den Prinzen auch inhaltlich. Tatsächlich ist "Dagobert" regelrecht von der Popkultur vereinnahmt worden; aus einem seiner Anrufmitschnitte ist sogar ein Lied geworden. Weil Evers seinen Film dank des oftmals geteilten Bildschirms auch optisch sehr abwechslungsreich gestaltet hat, ist "Jagd auf Dagobert" ausgesprochen kurzweilig.