Zu allzu später Stunde hat ihn ein Anruf des Staatsanwalts ereilt: Ein offenbar außerordentlich wichtiger Mitbürger vermisst seine Frau; die Kolleginnen Gorniak und Winkler (Karin Hanczewski, Cornelia Gröschel) sollen doch bitteschön mal nach dem Rechten sehen. Das ist eigentlich ein Job für eine Streife, und die beiden haben ohnehin ganz andere Pläne: Es ist kurz vor Mitternacht, Gorniak hat gleich Geburtstag, daheim steigt eine Party. Die Kommissarinnen sind längst in Feierlaune und entsprechend gekleidet, fahren aber wohl oder übel zum üppigen Anwesen von Bauunternehmer Fischer (Christian Bayer); und das ist der Auftakt zu einem "Tatort" aus Dresden, der eine im Grunde ganz einfache Geschichte auf ziemlich fesselnde Weise erzählt.
Der Zufall oder die Programmplanung wollten es, dass die ARD an zwei Sonntagen hintereinander Krimis von Anne Zohra Berrached zeigt: Bei "Liebeswut" hat sie zuletzt ebenfalls Regie geführt. Die Filme könnten allerdings kaum unterschiedlicher sein: Der "Tatort" aus Bremen war nichts für schwache Nerven und wird mit seinen überspitzten Figuren und der knalligen Bildgestaltung nicht alle Krimifans erfreut haben. "Das kalte Haus" ist ein ganz anderes Werk, aber von ähnlich herausragender Qualität: weil Berrached, die das Drehbuch von Christoph Busche überarbeitet hat, die Handlung in einer ständigen Schwebe hält. Die Spannung resultiert nicht wie üblich aus einer Mördersuche, sondern aus der Frage, ob überhaupt ein Verbrechen stattgefunden hat: Das Bett des Ehepaars ist zwar blutverschmiert, doch davon abgesehen gibt es keinerlei Hinweise auf eine Gewalttat. Trotzdem ist Gorniak überzeugt, dass der Unternehmer seine Frau auf dem Gewissen hat. Außerdem hat eine Nachbarin kürzlich die Polizei gerufen, weil sie Schreie gehört hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das klingt alles nicht sonderlich kompliziert. Dass der Film dennoch fesselt, liegt nicht zuletzt an der persönlichen Ebene: Kathrin Fischer (Amelie Kiefer) ist Psychologin und hat als "Glücksucherin" einen eigenen YouTube-Kanal; Abteilungsleiter Schnabel (Martin Brambach) ist ein großer Fan. Gorniak wiederum ist biografisch vorbelastet, was häusliche Gewalt angeht, weshalb sie voreingenommen gegen Fischer ermittelt, zumal sie gepackte Koffer entdeckt: Kathrin wollte den Gatten offenkundig verlassen. Außerdem ist der Mann ein Choleriker, der dauernd aus der Haut fährt: weil die Polizei ihn, das Opfer, als Täter betrachtet, anstatt den angrenzenden Wald mit einer Hundertschaft zu durchforsten. Aus dem Off erklingt zudem regelmäßig ein Monolog Fischers, die seine Fixiertheit auf Kathrin obsessiv erscheinen lässt. Weil sich das Verbrechen nicht an Dienstpläne zu halten pflegt, werden alle Beteiligten zunehmend gereizt, je länger die Nacht dauert. Gorniak hat im geschützten Umfeld eines Seminars von ihrer Kindheitserfahrung berichtet. Schnabel hält sie daher für befangen und macht eine entsprechende Bemerkung, die das Verhältnis der beiden fortan belastet. Als sich die Puzzleteile am nächsten Morgen zusammenfügen und Gorniaks Ahnung bestätigen, kommen Winkler jedoch erhebliche Zweifel an dem allzu perfekten Bild.
Aus der Geschichte wäre vermutlich auch bei konventioneller Umsetzung ein sehenswerter Krimi geworden, doch Filmpreisträgerin Berrashed ("24 Wochen", 2016), die schon mit ihrem ersten "Tatort" ("Der Fall Holdt", 2017, mit Maria Furtwängler) einen besonderen Sonntagskrimi gedreht hat, beweist erneut ihr großes Regietalent. Das gilt für die Arbeit mit dem Ensemble, aber vor allem für die ganz spezielle Atmosphäre; und das nicht nur, weil der Film zu großen Teilen im Zwielicht spielt (Kamera: Jakob Beurle). Schon der Prolog bietet ein reizvolles Wechselbad, als die soeben noch aufgekratzten Ermittlerinnen das verwaiste Anwesen der Fischers durchsuchen und die sehr prägnante Musik (Jasmin Reuter, Martin Glos, Christian Ziegler) für Thrillerspannung sorgt. Zwischendurch macht der Film immer wieder Abstecher ins weitverzweigte Stollensystem unter der Stadt; ein idealer Ort, um eine Leiche verschwinden zu lassen. Für Kontrapunkte sorgen einige verblüffende Momente, wenn beispielsweise nach Mitternacht plötzlich Stevie Wonders Geburtstags-Hit "Happy Birthday" durchs Haus schallt und erst der entrüstete Schnabel die Partylaune vertreibt. Die Spracherkennungs-Software des Hauses leitet schließlich auch das dramatisch-tragische Finale ein.