Auf den ersten Blick erinnert "Wild Republic" an "5vor12" (2017) - eine BR-Serie über fünf straffällig gewordene männliche Jugendliche, die im Rahmen einer therapeutischen Maßnahme einige Wochen auf einer abgeschiedenen Berghütte verbringen müssen. Der Auftakt ist der gleiche: Ein Bus bringt ein Dutzend junger Leute in die alpine Wildnis der Dolomiten. Beim ersten Etappenziel müssen sie sämtliche persönlichen Gegenstände abgeben, außerdem bekommen sie Einheitskleidung. Dann macht sich der von der gutgelaunten Sozialpädagogin Rebecca (Verena Altenberger) geführte Trupp auf den Weg.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bis hierher stimmt das Szenario der beiden Produktionen exakt überein, Typisierung der männlichen Hauptfiguren inklusive: Ein Dicker wird gemobbt, ein Hübscher ist hilfsbereit, ein junger Mann mit mutmaßlich türkischen Wurzeln hat eine kurze Zündschnur. Zwei Unterschiede sind allerdings offenkundig: "5vor12" war eine Kika-Serie, die Jugendlichen waren junge Teenager. In "Wild Republic" sind die Mitwirkenden deutlich älter; außerdem ist die Gruppe gemischt.
Die Vorgeschichten werden in Form kurzer Episoden nachgereicht. Kim (Emma Drogunova) zum Beispiel ist auf einen sogenannten Loverboy reingefallen, hat ihren Körper verkauft und war schließlich bereit, als Kronzeugin gegen eine Bande von Menschenhändlern auszusagen. Während sich das Drehbuch bei den Rückblenden auf Andeutungen beschränkt, lässt die düstere Gegenwart nicht viele Fragen offen, zumal die betont abweisend gefilmte Umgebung keinerlei Wohlbehagen hervorruft.
Die Teilnehmer sind nicht zum Spaß hier, die Alternative ist Knast; deshalb wirkt es auch unplausibel, dass Can (Aaron Altaras) seine Resozialisierung durch ständiges Fehlverhalten aufs Spiel setzt. Als der einheimische Bergführer nachts erschlagen wird, kommt es zur Rebellion. Die Gruppe macht sich mit Rebecca als Geisel auf und davon; und jetzt geht die Geschichte im Grunde erst richtig los.
Die weiteren Folgen, die selbstredend jeweils mit einem Cliffhanger enden, funktionieren konzeptionell ganz ähnlich. Das Autorenteam rund um die Grimme-Preisträger Jan Martin Scharf und Arne Nolting ("Club der roten Bänder") pickt sich jeweils eine Figur heraus. Auf diese Weise emanzipieren sich die Jugendlichen nach und nach von den anfänglichen Klischees. Sympathischer macht sie das nur bedingt: Der manipulative Justin (Béla Gábor Lenz) erinnert an psychopathische Killer aus zweitklassigen Hollywood-Thrillern und war schon als Kind gruselig; Lindi (Maria Dragus) kommt aus einer Nazi-Familie; Jessica (Camille Dombrowsky) wäre gern Beauty-Bloggerin geworden, ist aber im Drogensumpf gelandet.
Den komplexesten Hintergrund bekommt der stets um Ausgleich bemühte Ron (Merlin Rose). Der Sohn eines schwerreichen Vaters (Ulrich Tukur) ist Öko-Aktivist und hat im Rahmen einer Protestaktion einen Wachmann schwer verletzt. Er wird zum Wortführer der Gruppe, er ruft die titelgebende Republik und damit den Neustart aus: Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten; was war, soll keine Rolle mehr spielen. Alle bekräftigen den Pakt mit einem Brandzeichen, aber nicht jeder will das Konzept mittragen; und spätestens jetzt erinnert die Serie an William Goldings mehrfach verfilmten Klassiker "Herr der Fliegen" (1954).
Parallel dazu erzählt das Autorenteam, wie Lars Sellien (Franz Hartwig), der Schöpfer des erlebnispädagogischen Projekts, die Leiche von Bergführer Baumann entdeckt und die Polizei eine groß angelegte Suchaktion startet. Auch der Projektleiter hat eine Vorgeschichte: Rebecca ist seine Freundin, aber die Beziehung hat Risse bekommen, zumal Sellien gar nicht recht ist, dass sie schwanger geworden ist. Als er schließlich rausfindet, warum der zuständige Polizist (Gerhard Liebmann) ihn nicht bei der Suche nach den Jugendlichen dabei haben will, wird ihm klar, dass sie alle in großer Gefahr sind.
Tatsächlich werden die Jugendlichen bald von Unbekannten bedroht, weshalb "Wild Republic" nicht nur wegen der Kanufahrt auf einem reißenden Gebirgsfluss an den Outdoor-Klassiker "Beim Sterben ist jeder der Erste" erinnert: Den Ausflug in die Berge werden nicht alle überleben.
Neben den gelegentlichen Action-Elementen sorgen eine Romanze zwischen Ron und Kim sowie eine psychedelische Erfahrung für Abwechslung. Außerdem ist da ja noch die Frage, wer Baumann erschlagen hat; sie wird erst ganz am Schluss geklärt. Mit Ausnahme der packenden letzten Folge, als die Jugendlichen um ihr Leben kämpfen müssen, ist die Inszenierung (Markus Goller, Lennart Ruff) über weite Strecken jedoch fast zu entspannt, zumal zwischendurch auch mal gar nichts passiert.
Eine Reduzierung auf sechs Folgen hätte der Serie nicht geschadet, zumal nicht alle Szenen gelungen sind. Dazu gehört auch ein TV-Auftritt Selliens, der in einer Talkshow die Philosophie seines Projekts erläutert. Damit die Botschaft auf jeden Fall ankommt, muss ihm ein betont engstirnig inszenierter Zeitgenosse sinngemäß erwidern, ein bisschen Prügel habe noch keinem geschadet. Die Bildgestaltung ist allerdings vorzüglich, zumal gerade die Naturaufnahmen sehr eindrucksvoll sind, und die Musik (Volker Bertelmann) ist sehr präsent. Arte zeigt die Serie donnerstags, alle Folgen stehen bereits in der Arte-Mediathek.