Auf den ersten Blick handelt die sechsteilige Serie "Becoming Charlie" von der typischen Verwirrung eines jungen Menschen, der seinen Platz im Leben sucht. Geschichten dieser Art, in denen Jugendliche mit den großen Fragen des Daseins konfrontiert werden, Ordnung in das Chaos ihrer widersprüchlichen Gefühle bringen wollen und erstmals frühes Leid erleben, werden gern unter dem Sammelbegriff "Coming of Age" subsumiert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
All’ das gilt auch für Charlie, aber ihre Unordnung hat einen speziellen Grund: Sie ist als Mädchen auf die Welt gekommen, doch diese Rolle fühlt sich nicht richtig an. Ein Junge will sie jedoch auch nicht sein. Sie ist irgendwas dazwischen, für das es keinen Namen gibt.
Daraus hätte ein schwer um Gender-Gerechtigkeit bemühtes typisch öffentlich-rechtliches Reißbrettprodukt werden können - aber davon kann zum Glück keine Rede sein, was nicht zuletzt an Lea Drinda liegt. Die junge Schauspielerin ist erstmals in der Amazon-Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (2021) aufgefallen und hat seither einige Male gezeigt, dass noch viel von ihr zu sehen sein wird.
Dank ihres natürlichen Spiels wirkt die Titelheldin nie wie eine Kunstfigur: Von außen betrachtet ist Charlie eine ganz normale junge Frau, allerdings ohne nennenswerte Perspektive und ein bisschen verpeilt, was mehrfach zu unerwartet witzigen Szenen führt. Sie wohnt bei ihrer Mutter, jobbt als Lebensmittellieferantin und lebt ansonsten in den Tag hinein.
In biografischer Hinsicht ist das Drehbuch ziemlich sparsam. Alter, Schulabschluss, Vater: lauter Leerstellen. Umso wichtiger ist die Beziehungsebene: zu Mutter Rowena (Bärbel Schwarz), die manchmal mehr Kind ist als ihre Tochter; zu ihrem Freund Niko (Danilo Kamperidis), dessen betont maskulines Umfeld tunlichst nicht erfahren darf, dass er schwul ist; zur kernigen Tante Fabia (Katja Bürkle), bei der sie Rowenas Schulden abarbeiten muss; und schließlich zur hübschen Nachbarin Ronja (Sira-Anna Faal).
Die Psychologiestudentin ist es auch, die Charlie mit einer scheinbar simplen Frage aus dem Konzept bringt: Welches Pronomen wählst du eigentlich für dich?
Die sechs Folgen dauern jeweils nur 15 Minuten. Lion H. Lau hätte die Drehbücher auch als Spielfilm erzählen können, zumal die binnendramaturgischen Effekte überschaubar sind; andererseits sorgt die Konstruktion für eine gewisse Kurzweiligkeit. Die Aufteilung in viele kleine Kapitel kaschiert zudem, dass die Geschichte recht überschaubar ist.
Sehenswert ist die Serie daher vor allem wegen der jederzeit überzeugenden darstellerischen Leistungen. Das gilt gerade für die jungen Mitwirkenden. Lea Dindra (Jahrgang 2001) etabliert sich dank ihrer facettenreichen Verkörperung der Titelfigur endgültig als junge Schauspielerin mit großer Zukunft, Danilo Kamperidis gehörte schon zum famosen Ensemble der Netflix-Serie "How to Sell Drugs Online (Fast)", und Sira-Anna Faal ist eine echte Entdeckung; wenn die ZDF-interne Talentpflege funktioniert, wird sie garantiert in nicht allzu ferner Zeit in einem Sonntagsfilm auftauchen.
Dank der gelassenen Inszenierung (Kerstin Polte, Greta Benkelmann) fällt fast nicht auf, dass keine einzige der erzählten Beziehungskonstellationen den gesellschaftlich etablierten Konventionen entspricht: Fabia, die ihr gutes Herz hinter herrischem Auftreten verbirgt, lebt mit einer Frau zusammen; Ronja führt eine offene Beziehung, mit der sie aber offenbar nicht recht glücklich ist.
Zum Glück ist "Becoming Charlie" bei Weitem nicht so themenlastig, wie das ZDF-Etikett "non-binär im Plattenbau" befürchten lässt; die Figuren werden zudem allesamt sehr lebensnah gespielt. Lau bezeichnet sich zwar selbst als "nicht-binär" und möchte die Serie als "Liebesbrief an eine Gemeinschaft der bisher Unsichtbaren" verstanden wissen, aber im Grunde handelt sie von einer klassischen Identitätssuche. Für ein besseres Verständnis der Titelfigur sorgen gelegentliche Videos, wenn Charlie zum Beispiel "non-binary" in eine Suchmaschine eingibt und eine als Frau geborene Person erzählt, sie habe als Mann gelesen werden wollen, aber auch das nicht als stimmig empfunden.
Selbst diese Exkurse wirken nicht wie Fremdkörper, zumal die visuelle Ebene dank vieler kleiner Elemente recht abwechslungsreich ist: In Handschrift eingeblendete SMS-Nachrichten oder Charlies grafisch illustrierter Schuldenstand sorgen regelmäßig für sympathische optische Auflockerungen. Die Musikauswahl ist ohnehin sehr treffend. Neo zeigt alle Folgen am Stück.