Weil die TV-Sender schon seit geraumer Zeit kein Zutrauen mehr zum eigenen Gespür haben, warten sie bei potenziellen Reihen erst mal ab, wie gut ein Film beim Publikum ankommt. Sind die Zahlen zufriedenstellend, wird eine Fortsetzung in Auftrag gegeben. Bei "Schule am Meer" ist das anders: Die ARD-Tochter Degeto spricht noch vor der Ausstrahlung von einer "neuen Reihe", ein zweites Drehbuch wird bereits entwickelt.
Die Prognose, dass der Auftaktfilm ein Erfolg wird, ist ohnehin nicht allzu gewagt, und auch das Potenzial für weitere Geschichten ist offenkundig. Dafür stehen nicht nur Anja Kling und Oliver Mommsen, auch der Rahmen ist interessant: Handlungsort ist eine Flensburger Berufsschule. Das ist zum einen mal was Anderes und ermöglicht zum anderen Ausflüge in die Welt außerhalb der Lehranstalt, denn dank des dualen Ausbildungskonzepts sind die Azubis bereits in Betrieben beschäftigt; anstelle der Elterngespräche in einer klassischen Schulserie muss sich Direktorin Katharina Henriks (Kling) hier mit Chef:innen auseinandersetzen. Somit bieten sich gleich mehrere Beziehungsebenen an, denn das Kollegium spielt natürlich auch eine Rolle, vom Privatleben ganz zu schweigen.
Unterm Strich bleibt daher als einziges originelles Element die Schule, ansonsten orientiert sich das Erzählschema am Konzept von Freitagsreihen wie "Die Eifelpraxis" oder "Praxis mit Meerblick"; und das nicht nur, weil Katharina selbstredend rund um die Uhr für ihre Schutzbefohlenen zu sprechen ist. Abgesehen von lästigen Details wie etwa einer defekten Kaffeemaschine hat sie ihren Laden im Griff; bis ein neuer Gastdozent auftaucht.
Erik Olsen (Mommsen) ist ein YouTube-Star, dessen Auftritte eine Mischung aus Koch-Video und Abenteuer sind. Unter normalen Umständen würde sich so jemand kaum in eine Kleinstadt verirren, aber Stadtratmitglied Bernd Olsen (Oliver Sauer) hofft, von der Prominenz seines Bruders im Wahlkampf zu profitieren.
Selbstverständlich ist Katharina alles andere als begeistert über den Neuzugang, den sie schon zu gemeinsamen Schulzeiten für eingebildet hielt. Das Kollegium bereitet ihm gleichfalls einen kühlen Empfang, weil die Damen und Herren vermutlich ahnen, was auch prompt eintritt: Erik, der nie eine pädagogische Ausbildung genossen hat, bringt die gewohnten Abläufe durcheinander. Es wäre geradezu fahrlässig vom Drehbuch-Duo Uwe Kossmann und Markus Hoffmann gewesen, wenn sich der Gastdozent nicht durch höchst unkonventionelle Lehrmethoden auszeichnen würde; die Herzen seiner Kochklasse gewinnt er dagegen im Sturm.
Mommsen und Kling wirken wie eine naheliegende Besetzungskonstellation, dabei war das vor allem darstellerisch interessante Sat.1-Drama "Aus Haut und Knochen" (2020) ihr erster gemeinsamer Film: er als Vater, der die Probleme der magersüchtigen Tochter runterspielt, sie als Mutter, die die Schuld bei sich sucht. Diesem Entwurf entsprechen zumindest im Ansatz auch Erik und Katharina: Er lebt sein Leben nach der Devise "erst ma’ gucken", sie hat die Dinge gern unter Kontrolle.
Dass die beiden ständig aneinandergeraten, liegt in der Natur der Sache, doch die Hoffnung auf eine romantische Komödie bleibt zunächst unerfüllt: Katharina ist verheiratet. Der dänische Gatte (Carsten Bjørnlund) übersieht zwar, dass sie eine neue Frisur hat, aber sonst deutet nichts daraufhin, dass die Ehe kriseln könnte. Potenzial hat auch der familiäre Hintergrund Eriks: Der Abenteurer ist einst im Streit von seinen Eltern geschieden; das Wiedersehen nach vielen Jahren beschert Monika Lennartz einen zwar winzigen, aber sehr berührenden Gastauftritt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Während sich Kossmann und Hoffmann, die gemeinsam unter anderem mehrere Episoden für die SWR-Krimikomödien "Der Bulle und das Landei" geschrieben haben, die weitere Entwicklung der Beziehung offen halten, ist die Episoden-Herausforderung bis hin zum Detail einer erwartbaren Ohrfeige vorhersehbar: Die Chefin (Johanna Gastdorf) von Kochschüler Jonas (Junis Marlon) will das Ausbildungsverhältnis beenden, weil ihre aus Thailand stammende Adoptivtochter Cathleen (Andrea Guo) den Kontakt abgebrochen hat, seit sie zu Jonas gezogen ist. Zumindest die Krimifans im Publikum werden früh ahnen, was wirklich hinter Cathleens angeblicher Persönlichkeitsstörung steckt.
Obwohl gerade Junis Marlon seine Sache gut macht, ist dieser Teil des Films längst nicht so fesselnd wie die regelmäßigen Auseinandersetzungen zwischen Schulleiterin und Gastdozent, zumal die beiden selbstverständlich auch beim Umgang mit Jonas unterschiedlicher Meinung sind.
Wenig überraschend ist auch die Umsetzung durch Wolfgang Eißler, der für sein ARD-Märchen "Die kluge Bauerntochter" (2010) immerhin mit dem Robert-Geisendörfer-Preis ausgezeichnet worden ist; für die Degeto hat er bereits eine Episode der stets sehenswerten Freitagsreihe "Praxis mit Meerblick ("Familienbande", 2020) und zuvor das sympathische Gesangsmärchen "Wenn’s um Liebe geht" (2019) gedreht. Gegen seine Arbeit mit dem Ensemble ist nichts einzuwenden, auch wenn Victoria Fleer das Klischee der Assistentin, Sekretärin oder Praxishilfe mit auffälligem Erscheinungsbild erfüllt, aber die Bildgestaltung entspricht bis hin zu den malerischen Aufnahmen der Flensburger Förde der üblichen Optik solcher Filme.