Viele deutsche TV-Kommissare leiden unter irgendeiner Form der Deformation. Die muss nicht immer im Vordergrund stehen, oft handelt es sich auch nur um eine kleine Abweichung von der Norm; aber gerade bei den Ermittlern der abendlichen Krimireihen hat fast jeder eine Macke. Es ist also beiliebe kein Alleinstellungsmerkmal von "München Mord", dass das zu Beginn des ersten Films ("Wir sind die Neuen", 2014) aufs Abstellgleis im Keller geschobene Trio charakterlich etwas sonderbar ist.
Trotzdem sind Abteilungsleiter Ludwig Schaller (Alexander Held) und seine Mitarbeiter Angelika Flierl (Bernadette Heerwagen) und Harald Neuhauser (Marcus Mittermeier) mehr als bloß eine Ansammlung schräger Vögel; das zeigt, wie gut Alexander Adolph und seiner Ko-Autorin Eva Wehrum die Konzipierung der Figuren gelungen ist. Womöglich würde die Geschichte des vierten Falls, die Friedrich Ani und Ina Jung einem authentischen tragischen Ereignis nachempfunden haben (in München als "Isar-Mord" bekannt), auch mit keinem anderen Ermittler-Team derart glaubhaft funktionieren.
In einem Park rempelt ein Jogger eine junge Frau an. Als sie sich beschwert, spuckt er sie an. Ihr Begleiter will den Jogger zu Rede stellen. Der schlägt ihm gegen den Kehlkopf; der Mann stirbt. Angelika Flierl wird Zeugin des Vorfalls und rennt dem Jogger vergeblich hinterher. Die Suche nach dem Täter wird zur Jagd nach einem Phantom: Der vermummte Mann war kaum zu erkennen, verwertbare DNS-Spuren gibt es trotz der Spuckattacke auch nicht.
"Wo bist Du, Feigling" lautet der ebenso ungewöhnliche wie treffende Titel des Films (TV-Premiere war 2016). So sehr sich das Trio auch ins Zeug legt: In Fällen wie diesen hilft nur der Zufall; an dieser Realität kommt auch das Drehbuch nicht vorbei. Die Einsicht hindert die drei aus dem heruntergekommenen Kellerbüro allerdings nicht daran, mit umso mehr Engagement zu ermitteln. Tatsächlich gehen ihnen zwei Verdächtige ins Netz: Der eine (Johannes Allmayer) ist offenbar ein Stalker der Verlobten des Toten, der andere (Thomas Darchinger) gilt seit seiner Scheidung als notorischer Frauenhasser; aber weder Gegenüberstellungen noch die Rekonstruktion des Tathergangs führen zur Lösung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon die Abkehr vom üblichen Schema macht diesen Fall äußerst reizvoll: Weil Mordmotive wie Eifersucht, Rache oder Habgier keine Rolle spielen, fällt mit der üblichen Frage nach dem "Cui bono" (Wem zum Vorteil?) ein wichtiges Krimi-Element weg. Stattdessen nimmt sich der Film Zeit für die Trauer: Immer wieder gibt es Einschübe mit der untröstlichen jungen Frau (Karoline Teska), für die der Verlust umso schmerzlicher ist, weil ihr Verlobter sie aus einem düsteren Lebenstal herausgeführt hat.
Dass diese traurige Geschichte dennoch heitere Momente hat, die weder aufgesetzt noch unangebracht wirken, ist ein weiterer Beleg für die herausragende Qualität der Reihe: Die Figuren sind nicht schräg, sie folgen nur ihrer eigenen Logik; ihr Verhalten mag mitunter komisch sein, aber immer in sich schlüssig. So etwas klappt nur mit entsprechenden Schauspielern. Mittermeiers Hallodri, der keiner Frau widerstehen kann, ist eine ansonsten ganz normale Krimifigur, aber die beiden anderen fallen deutlich aus dem Rahmen.
Alexander Held, schon 2014 für diese Rolle mit dem Bayerischen Fernsehpreis belohnt, verhindert gekonnt, dass der Abteilungsleiter zum schrulligen Ermittler verkommt. Fast noch besser ist die Leistung von Bernadette Heerwagen. Schon ihre Körpersprache ist ein Genuss, weil sie die von ihrem Chef aliterarisch "Fräulein Flierl" genannte verhuschte Kommissarin konsequent von Kopf bis Fuß in die Defensive zwingen muss. Ein kleines darstellerisches Meisterwerk ist die Szene, in der Schaller sie auffordert, ihn anzuspucken, was sie einfach nicht fertigbringt. Bei seinem Freundfeind, dem Kriminaloberrat Zangel (Christoph Süß), gelingt ihm das besser; die Provokation "intriganter Feigling" genügt völlig. Da der neue Staatsanwalt (Simon Schwarz) zufällig Zeuge des Vorfalls wird, hat Schallers Vorgesetzter nun eine erste Abmahnung in seiner Personalakte. Es wird ohnehin eine Menge gespuckt in diesem Film.
Sehenswert ist "Wo bist Du, Feigling" aber nicht nur wegen der Schauspieler, auch bei der Bildgestaltung setzen Regisseur Anno Saul und Kamerafrau Nathalie Wiedemann immer wieder Akzente, ohne dabei den Fluss der Handlung zu stören. Selbst aus Schallers schlichtem Schreiten durch die Flure des Präsidiums machen die beiden kleine Kunstwerke.
Ähnlich gut integriert sind einige skurrile Momente, etwa die Doppelbefragung zweier Taxifahrer, wobei der eine (Gerhard Wittmann) den anderen (Kim Ill-Young) völlig überflüssigerweise dolmetscht. Die Dialoge sind ohnehin wunderbar lebensnah und dennoch mitunter nur haarscharf nicht absurd, ebenso wie Schallers wunderlich anmutende Recherche-Methoden. Seine Fähigkeiten als Ermittler stehen allerdings außer Frage. Einmal zeigt Saul ihn abends von draußen einer Kneipe, in der der Täter womöglich nach der Tat eingekehrt ist; das Licht lässt ihn wie eine Erscheinung wirken.
Neo beginnt den Fernsehabend um 20.15 Uhr mit der nicht minder sehenswerten dritten Episode, "Kein Mensch, kein Problem" (2016), die das Trio mit einem mysteriösen Fall konfrontiert: In einem Hotel wird ein nackter Mann in einem Reisekoffer entdeckt.