Die "Polizeiruf"-Episoden aus München waren schon immer besonders: meist besonders gut, oft besonders anspruchsvoll, gelegentlich aber auch besonders speziell. Gerade die Filme mit Matthias Brandt waren oft mehr Kunst als Krimi.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass der Bayerische Rundfunk mit Nachfolgerin Verena Altenberger ebenfalls ungewöhnliche Akzente im Fernsehalltag setzen wollte, zeigten schon Titel wie "Der Ort, von dem Wolken kommen" oder "Die Lüge, die wir Zukunft nennen". Auch inhaltlich fielen die Filme gern aus dem Rahmen; mit "Frau Schrödingers Katze" wagte sich die Reihe gar in den Bereich der Quantenmechanik.
Mit seinem beinahe gleichnamigen Gedankenexperiment hat der Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger verdeutlicht, dass ein Beobachter stets ungewollt Einfluss auf ein Experiment hat. Darum geht es auch im fünften Fall für Elisabeth "Bessie" Eyckhoff, "Das Licht, das die Toten sehen".
Die Basis jeder erfolgreichen Ermittlung, erklärt die Kriminaloberkommissarin ihrem Kollegen Eden (Stephan Zinner), sei Vertrauen; deshalb versuche sie stets, eine Beziehung zu den Beteiligten aufzubauen. Vor diesem Hintergrund entwickelt das Drehbuch (Sebastian Brauneis, Roderick Warich) eine Art Fallstudie: Was passiert, wenn sich das solchermaßen entstandene Seelenband als Hindernis erweist, weil eine Person, zu der Bessie eine fast freundschaftliche Verbindung hergestellt hat, zur Verdächtigen wird?
Das klingt erst mal interessant, zumal die Autoren das theoretische Konstrukt plausibel verpackt haben. Als die Leiche einer zunächst noch unbekannten jungen Frau gefunden wird, meldet sich eine Mutter bei Bessie: Caroline Ludwig (Anna Grisebach) vermisst seit zwei Jahren ihre Tochter Anne. Allerdings gibt es keinerlei Hinweise auf eine Gewalttat, im Gegenteil: Die Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen Anne, wie sie in einen Bus nach Italien steigt.
Tatsächlich handelt es sich bei der Leiche um Laura Langhammer, aber es gibt unübersehbare Parallelen: Beide waren oft in der Eishalle, beide waren jung, beide hatten kurze blonde Haare; womöglich ist ein Serientäter am Werk.
Nächstes Opfer könnte Steffi (Zoë Valks) sein, eine junge Dealerin, die dem Typus der beiden anderen perfekt entspricht. Doch dann entdeckt Bessie im verwaisten Zimmer von Anne eine Wand, die mit Fotos von Laura und Steffi bedeckt ist: Caroline Ludwig entpuppt sich als Stalkerin. Das macht sie selbstredend hochgradig tatverdächtig; und Bessie fehlt längst die nötige Distanz, um die Frau unbefangen befragen zu können.
Der theoretische Entwurf ist also durchaus faszinierend, zumal das Drehbuch die losen Enden schließlich plausibel miteinander verknüpft. Das Problem der Umsetzung sind die Figuren. Der Film verbringt viel Zeit mit Steffi, was naheliegend ist, schließlich schwebt sie womöglich in großer Gefahr. Allerdings ist ihr Freund Patrick (Aniol Kirberg) eine echte Nervensäge: Der junge Mann ist drogenabhängig, lebensuntüchtig und eine Klette obendrein. Weil die Autoren erst am Schluss verraten, was ihn und Steffi zusammenschweißt, sind die Szenen mit dem Pärchen eine echte Geduldsprobe.
Eine ähnlich freudlose (Kunst-)Figur ist Caroline Ludwig, die zwischen den Polen Verbitterung und Verbissenheit mäandert. Gespielt sind diese beiden Rollen gut und glaubwürdig, aber es ist alles andere als ein Vergnügen, ihnen zuzuschauen.
Konsequenterweise entsprechen auch die Bilder diesem Vorzeichen. Die Innenaufnahmen sind allesamt düster und mit einem Stich ins Dunkelgrüne versehen, was dem Film eine bedrückende Atmosphäre verleiht. Regie führte Filippos Tsitos, der in den letzten Jahren gerade fürs ZDF diverse Serienepisoden inszeniert hat (allen voran für die Reihe "Der Kriminalist"); seine wenigen TV-Krimis haben jedoch keine bleibenden Erinnerungen hinterlassen. Umso eindrucksvoller war zuletzt "Tanze Tango mit mir" (2021), ein ebenfalls für den BR entstandenes, sehr schön gespieltes und sensibel erzähltes tragikomisches Drama mit Michael A. Grimm als herzkranker Theaterpförtner, der eher zufällig eine exzessive Tanzleidenschaft entwickelt.
Für die gute Bildgestaltung war wie auch beim "Polizeiruf" Ralph Netzer zuständig, doch damit enden die Parallelen: Anders als die Tragikomödie vermittelt "Das Licht, das die Toten sehen" keinerlei Lebensfreude. Das zählt zwar nicht zu den zentralen Aufgaben eines Krimis, aber ein Film sollte sich auch nicht wie eine Strafarbeit anfühlen. Interessant ist immerhin der Kontrast zwischen der empathischen Bessie und dem rustikalen Eden. Selbst wenn sich die beiden mögen: Die Konstellation birgt viel Reibungspotenzial.