Wäre "Leben über Kreuz" ein französischer Kinofilm, dann wäre daraus womöglich eine bissige Tragikomödie im Stil von "Ziemlich beste Freunde" (2011) geworden; oder ein heiteres Sozialstück wie "Hereinspaziert!" (2017), in dem ein Oberschicht-Ehepaar nicht ganz freiwillig eine obdachlose Roma-Familie bei sich aufnimmt. Dagmar Seume erzählt ihre Geschichte jedoch als Drama: Weil sie schwerste Nierenprobleme haben, sind die Tage von Caren Blumberg (Christina Hecke) und Jan Kempe (André Szymanski) gezählt. Die jeweiligen Ehegatten – hier Sebastian Blumberg (Benjamin Sadler), dort Birthe Kempe (Annette Frier) – kommen als Spender nicht in frage, und mit einer Organspende ist erst in einigen Jahren zu rechnen; so lange werden die beiden nicht mehr leben. Ihr Arzt (Johann Ahn) ist allerdings auf einen seltenen Glücksfall gestoßen: Eine Spende über Kreuz würde passen. Es gibt jedoch einen Haken: Um illegalen Handel auszuschließen, sind Lebendspenden in Deutschland nur zwischen Menschen erlaubt, die eine enge und lang andauernde emotionale Bindung haben, also entweder miteinander verwandt oder sehr gute Freunde sind. Eine Ethikkommission überprüft, ob die Nähe echt oder bloß behauptet ist. Beim Gespräch mit dem Arzt ist das Quartett noch guter Dinge: Es sollte doch kein Problem sein, eine innige Freundschaft zu markieren; aber dann erweisen sich die Unterschiede zwischen den beiden Paaren als unüberbrückbar.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Regisseurin Seume und Koautorin Annika Tepelmann hätten diesen Stoff auch im Stil des Komödienmusters "Scheinehe mit Hindernissen" erzählen können. Tatsächlich erweckt "Leben über Kreuz" den Anschein, als sei erst beim Schnitt ein Drama draus geworden, was den Film seltsam unentschlossen wirken lässt.
Nicht recht plausibel ist zum Beispiel der behauptete Kontrast zwischen den Paaren. Seumes Umsetzung tut so, als lägen Welten zwischen den Blumbergs und den Kempes. Die einen leben zwar in einem feudalen Eigenheim, aber die anderen wohnen keineswegs im Plattenbau. Sebastian Blumberg entwirft Brücken, Gattin Caren ist Grafikerin. Die behauptete Kluft wäre gegeben, wenn die Kempes Hartz-IV-Empfänger wären, aber Jan arbeitet für eine Versicherung und Birthe ist Grundschullehrerin. Weil die soziale Divergenz also eher überschaubar ist, müssen charakterliche Kluften herhalten: Jan hat eine nicht näher erklärte Abneigung gegen die Blumbergs, die er für "aufgeblasene Gutmenschen" hält, Birthe muss sich wie eine Erzieherin verhalten und jedes Mal einen Strich verteilen, wenn jemand "Scheiße" sagt. Beim ersten Aufeinandertreffen der beiden Paare vor dem Büro des Arztes muss Frier zudem etwas einfältig dreinschauen, um den Gegensatz zu den weltgewandten Blumbergs zu betonen. Dem eigentlich sympathischen und humorvollen Sebastian wiederum haben die Autorinnen eine kurze Zündschnur angedichtet, weshalb er regelmäßig aus der Haut fährt und die Kempes unnötig beleidigt. Im Grunde ist Caren die einzige, die sich nicht wie eine Filmfigur aufführt.
Diese Übertreibungen sind jedoch typisch für den Film: Zwischen Birthe und ihrer Teenager-Tochter gibt es nicht einfach bloß die üblichen Pubertätsprobleme, Livia (Ava Montgomery) muss ihre Mutter regelrecht hassen. Die vier Eltern werden nicht mal von der Sorge um ihre ausgerissenen Kinder zusammengeschweißt: Livia und Noah (Philip Noah Schwarz) fahren nach Holland, kapern des Segelboot der Blumbergs und setzen es auf Grund; selbstverständlich zieht ausgerechnet jetzt ein Gewitter auf. Als sich die vier zum Essen treffen, ist die Kellnerin von einer geradezu geschäftsschädigenden Unhöflichkeit; noch so ein Detail, das eher zu einer Komödie passen würde.
Aufgrund dieser Zuspitzungen wirkt "Leben über Kreuz", als hätten die Verantwortlichen der Qualität des Stoffs nicht getraut, zumal der Film ausgerechnet auf der ethischen Ebene nicht konsequent ist: Weil die Handlung aus Sicht der beiden Paare erzählt wird, erscheinen die Mitglieder der dreiköpfigen Ethikkommission automatisch als Antagonisten; die Befragung erinnert auf unangenehme Weise an die sogenannten Gewissensprüfungen, bei denen sich Kriegsdienstverweigerer dem Verhör einer konservativen Kommission unterziehen mussten.
Seume hat bislang für die ARD neben zwei interessanten, aber nicht weiter bemerkenswerten "Tatort"-Folgen aus Köln ("Benutzt" und "Durchgedreht", 2015/16) die sehenswerte Senioren-WG-Komödie "Alleine war gestern" (2015) sowie gute Episoden für Krimireihen wie "Nord bei Nordwest" und "Kommissar Dupin". Beim ZDF hat sie sich mit dem ansprechenden Sonntags-Zweiteiler "Ein Tisch in der Provence" (2020) für weitere Aufgaben empfohlen. "Leben über Kreuz" ist allerdings ein Ausreißer nach unten. Wem beim Anblick von Spritzen oder Operationsszenen blümerant wird, muss ohnehin einige Male wegschauen.