So ergeht es im achten Film der stets sehenswerten ARD-Freitagsreihe "Zimmer mit Stall" einem Mann, der vom Pferd gestürzt ist, weil sich der brummelige Barthl (Friedrich von Thun) unbedingt ein Wettrennen mit ihm liefern musste: der Alte auf seinem alten Moped, neben der Straße der Reiter, dessen Ross durchgeht, als das Moped eine Fehlzündung hat. Körperlich ist der Fremde (Florian Karlheim) unversehrt, aber er kann sich an nichts mehr erinnern. Weil Sophie (Aglaia Szyszkowitz) hinter Barthl auf der Straße fuhr und sich um ihn gekümmert hat, ist sie der einzige Mensch, zu dem er einen Bezug hat; also nimmt sie ihn bei sich auf. Natürlich rührt sie seine Hilflosigkeit; außerdem ist er nicht unattraktiv.
Das klingt wie der Beginn einer Romanze, aber für solche Nebensächlichkeiten hat die Pensionswirtin, die ja auch noch Bürgermeisterin ist, gar keine Zeit: Das beschauliche Wiesenried vor den Toren Münchens braucht dringend einen neuen Arzt; Sophies politischer Gegenspieler Jungböck (Ferdinand Hofer) lässt ohnehin keine Gelegenheit verstreichen, an ihrem Stuhl zu sägen. Zu allem Überfluss hat Tochter Leonie (Carolin Garnier) auch noch Liebeskummer und ärgert sich, dass die Lokalpolitik für ihre Mutter andauernd wichtiger ist die eigene Familie. Auch daraus ließe sich allerlei komisches Kapital schlagen, aber der Film – Sebastian Goders Drehbuch ist von Christian Limmer und Regisseur Sebastian Stern bearbeitet worden – nimmt die Konflikte allesamt ernst. Unter anderem fürchtet der zunehmend vergessliche Barthl, er leide unter beginnender Demenz. Gerade deshalb glaubt er, dass der Fremde seine Amnesie nur simuliert. Sophie wiederum ist überzeugt, ihr Gast laufe vor irgendetwas davon.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Für die üblichen Heiterkeiten sorgen in erster Linie die Animositäten zwischen den beiden Hauptfiguren; die Wortwechsel sind längst zum Markenzeichen der Reihe geworden. Die ständig streitenden Zwangsnachbarn sind wie ein altes Ehepaar, das sich gern allerlei mehr oder minder subtile Gemeinheiten an den Kopf wirft, aber ohne einander gar nicht mehr leben kann. Weil Friedrich von Thun und Aglaia Szyszkowitz offenbar immer noch ein großes Vergnügen an den entsprechend bissigen Dialogen haben, macht es nach wie vor großen Spaß, ihnen zuzuschauen. Witzig sind aber auch die diversen Zwischenspiele, selbst wenn der Hintergrund gar nicht lustig ist: Wie so vielen Dörfern droht auch Wiesenried der Exodus der Jugend. Eine neue Besetzung der Arztpraxis wird das nicht verhindern, wäre aber immerhin ein Signal. Die Bewerbungsgespräche machen zwar wenig Mut, sind jedoch sehr amüsant, ebenso wie der vergebliche Versuch von Sophies Freundin Rosalie (Bettina Mittendorfer), dem Gedächtnis des Mannes mit Hilfe von Hypnose auf die Sprünge zu helfen. Und dann ist da noch sein durchgegangenes Pferd, das im Garten von Jungböck allerlei Unfug anstellt, vom Jungpolitiker aber umgehend in seine Karrierepläne integriert wird. Als Sophie schließlich doch noch die Identität des Fremden ohne Namen rausfindet und seine Frau (Josephine Ehlert) verständigt, kommt es zu einem Finale voller Überraschungen.
Das zentrale Duo ist ohnehin stets das Einschalten wert, aber für den Rest des Ensembles gilt das nicht minder; auch und vor allem für Carolin Garnier, die schauspielerisch längst aus der Tochternebenrolle rausgewachsen ist. "Über alle Berge" ist jedoch nicht nur darstellerisch sehenswert: Für die Bildgestaltung war der gefragte Kameramann Ngo The Chau verantwortlich, mittlerweile selbst Regisseur. Das schönste Bild des Films zeigt Sophie und ihren Gast wie einen Scherenschnitt in der Abenddämmerung. Hörenswert ist der Film ebenfalls: Die Filmmusik stammt von Sebastian und Peter Horn. Sebastian Horn hat 2012 gemeinsam mit Gerd Baumann die Band "Dreiviertelblut" gegründet. Die "folklorefreie Volksmusik" des Duos hat schon in den Serien "Der Beischläfer" (2020, Amazon) und "Oktoberfest 1900" (2020, ARD) für eine ganz spezielle Atmosphäre gesorgt. Die Horn-Brüder, einst bereits gemeinsam bei der Band Bananafishbones unterwegs, haben unter anderem die Melodie des wohl bekanntesten Dreiviertelblut-Liedes, "Deifedanz" (Teufelstanz), in ihre Musik integriert, und selbstredend dient der Titel zumindest ein kleines Bisschen als Anspielung auf den wahren Charakter des freundlichen Fremden.