Sie wollte der Nachwelt als schöne junge Frau in Erinnerung bleiben. Gegen ihre letzte Aufnahme konnte sie sich nicht wehren: Sie zeigt den unbekleideten Leichnam der 1898 in Zürich ermordeten Kaiserin auf einem Obduktionstisch, gut zu erkennen anhand einer kleinen Tätowierung auf ihrem Schulterblatt. Der Wiener Hoffotograf hatte sich geweigert, das Foto zu machen, also hat sein Assistent auf den Auslöser gedrückt. Kurz drauf ist der Mann ums Leben gekommen. Seither liegt ein Fluch auf dem Bild: Jeder, der nur einen kurzen Blick darauf wirft, muss sterben. Die Aufnahme ist, sorgsam verpackt, innerhalb der Fotografenfamilie von Generation zu Generation weitergegeben worden, stets mit der Auflage, sie niemals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; aber weil Hab- und Neugier erfahrungsgemäß stärker sind als die Angst, fordert der Fluch der Kaiserin weitere Opfer.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diese Rahmenhandlung ist so gut, dass die Umsetzung in jedem Fall einen fesselnden Film ergeben hätte, aber "Die nackte Kaiserin" knüpft nahtlos an die Qualität der ebenfalls von Katharina Mückstein inszenierten letzten "Wien-Krimi"-Episode ("Tod im Prater") an. Das Drehbuch stammt von Nils Morten Osburg (Idee: Ralph Werner, Wolfgang Wysocki). Der blinde Sonderermittler Haller (Philipp Hochmair) und sein Freund Niko Falk (Andreas Guenther) kommen ins Spiel, als die letzte Nachfahrin (Julia Hartmann) des einstigen Hoffotografen das Bild erbt. Bei einem Überfall wird ihr Mann erstochen und das Foto (eine Erfindung der Autoren) geraubt. Als Haller den Tathergang vor seinem geistigen Auge visualisiert, wird ihm schnell klar, wer den Raubmord begangen hat; auch das Corpus Delicti ist umgehend gefunden, es soll nun auf Nimmerwiedersehen im Nationalarchiv verschwinden. Der Film ist allerdings noch nicht mal halb vorbei; tatsächlich kommt es zu einem weiteren Todesfall.
Erneut liegt ein besonderer Reiz der Geschichte in ihrer engen Verknüpfung mit dem Handlungsort; der Einfall, dem dank verschiedener Filme und Serien derzeit wieder hochaktuellen Sisi-Mythos eine ganz andere Seite abzugewinnen, ist ohnehin clever. Hinzu kommt eine Freude am Detail, die auch schon "Tod im Prater" auszeichnete. So ist beispielsweise ein Besuch der abergläubischen Haushälterin des verstorbenen Fotografen im Polizeirevier weit mehr als bloß ein Vorwand, um die skurrile Seite des Falls zu betonen; ähnlich wie der kleine Hund im letzten Film trägt die Frau schließlich indirekt entscheidend zur Lösung des Rätsels bei. Trotzdem spielt das Drehbuch natürlich auch mit der Frage, wie ernst der Fluch zu nehmen sei. Während Haller aus naheliegenden Gründen dagegen gefeit ist, nimmt Falk die Sache sehr ernst, was zu einigen amüsanten Szenen führt. Die Kombination aus Krimi und Komödie ist ohnehin wieder sehr gut gelungen. Darüber hinaus beeindruckt auch dieser Film durch seine Schauplätze, darunter das imposante Barock-Palais Kinsky sowie die nicht minder eindrucksvolle Nationalbibliothek.
Höhepunkt ist ein opulenter Kostümball, bei dem die geladenen Gäste ausnahmslos als Sisi oder Ludwig II. verkleidet sind, und weil es der Regisseurin ein Anliegen war, dass es im "Wien-Krimi" recht divers zugehen soll, stecken in vielen Kleidern Männer, während ebenso viele Damen die Uniform des bayerischen Königs tragen. Wie sich Falk ein ums andere Mal bei der Verfolgung eines Mannes (David Rott), der mit Sisi-Devotionalien handelt, durch die tanzende Menge kämpfen muss, ist ähnlich heiter wie die Auftritte von Lassmann (Michael Edlinger). Der Mitarbeiter von Kommissarin Janda (Jaschka Lämmert) ist keine Witzfigur, erfreut aber regelmäßig durch beiläufig eingestreute amüsante Momente, wenn er zum Beispiel beim Fest in einer zwar naheliegenden, aber dennoch denkbar falschen Verkleidung erscheint.
Während die Inszenierung des Balls mit rund hundert Komparsen vermutlich vor allem eine logistische Herausforderung war, vom Bekleidungsaufwand ganz zu schweigen, verdeutlichen andere Szenen, wie sorgsam Mückstein und ihr Kameramann (wie bei "Tod im Prater" Michael Schindegger) viele Einstellungen dank des Zusammenspiels von Szenen- und Kostümbild komponiert haben. Die Liebe zum Detail zeigt sich auch in einer Szene, in der die Schnitte zum Rhythmus des Nina-Simone-Songs "Sinnerman" erfolgen; vermeintlich simpel, aber sehr effektvoll – wie so viele Drehbuch- und Regieeinfälle im "Wien-Krimi".