"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben": Natürlich geht es in Rainer Maria Rilkes "Herbsttag" nur vordergründig um den Abschied vom Sommer. Da die Zeilen nicht zuletzt das Vergehen der Zeit behandeln, dürfen sie sicherlich auch als Altersallegorie verstanden werden, selbst wenn sich Rilke, als er das Gedicht 1902 verfasst hat, fast exakt in der Mitte seines kurzen fünfzigjährigen Lebens befand.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
An Altersarmut hat er hingegen vermutlich eher nicht gedacht, und wer immer noch glaubt, die Freitagsfilme im "Ersten" dienten vor allem dem Zeitvertreib, darf sich durch die zweite Episode der Reihe "Anna und ihr Untermieter" gern eines Besseren belehren lassen.
Vordergründig geht es nach wie vor darum, dass die ehrenamtliche Telefonseelsorgerin Anna Unterweser (Katerina Jacob) irgendwie mit Werner Kurtz (Ernst Stötzner) klarkommen muss; der pensionierte langjährige Leiter des Kölner Ordnungsamts ist mit seiner Vorliebe für Regeln, Recht und Ordnung sowie einer eher pessimistischen Grundhaltung der perfekte Gegenentwurf zur toleranten Zuversichtlichkeit seiner Vermieterin. Diese Geschichte haben Martin Rauhaus, Schöpfer unter anderem der ähnlich sehenswerten ARD-Reihe "Hotel Heidelberg", und Regisseur Ralf Huettner allerdings schon im ersten Film erzählt ("Aller Anfang ist schwer", 2020).
Zwar gäbe es noch eine Vielzahl von Themen, die sich auf diese Weise behandeln ließen, weil der alte Kurtz immer noch gute Verbindungen zur Stadtverwaltung hat und unter seiner Widerborstigkeit auch eine gewisse Hilfsbereitschaft verbirgt, aber "Dicke Luft" konfrontiert das ungleiche Duo in erster Linie mit seiner jeweiligen Vergangenheit.
Der Titel ist ein bisschen einfallslos, das Drehbuch lautete "Wer jetzt kein Haus hat", denn genau darum geht: Eines Tages steht Willi vor der Tür. Willi ist Annas Ex-Mann und eine Rolle wie gemalt für Armin Rohde: Der Luftikus hat abgesehen von der gemeinsamen Tochter (Katharina Schlothauer) in seinem Leben nicht viel auf die Reihe gekriegt.
Irgendwann ist er nach Thailand ausgewandert, um dort eine Currywurstbude aufzumachen. Das ist schief gegangen, seine einheimische Liebschaft hat ihn vor die Tür gesetzt, und deshalb ist er nun wieder da und braucht eine neue Bleibe. Rohde bedient mit großem Vergnügen alle Klischees, die eine derartige Figur mit sich bringt: Willi ist ständig gut gelaunt, was allen anderen irgendwann auf die Nerven geht, trägt einen angesichts seiner vielen geplatzten Träume völlig unangebrachten Optimismus vor sich her und ist notorisch pleite; aber seinem Charme kann kaum jemand widerstehen.
Geschickt baut Rauhaus dem Vorwurf vor, er nehme das Problem nicht ernst. Tatsächlich ist die Ebene mit Willi und seiner balouhaften "Probier’s mal mit Gemütlichkeit"-Haltung bloß die heitere Seite des Themas. Die ernste Variante repräsentiert Annas Freundin Gundula (Lisa Kreuzer), denn wie ihr geht es vielen älteren Menschen, vor allem jedoch vielen Frauen: Gundula hat ihr Leben lang gearbeitet, ist aber im Alter dennoch mehr oder weniger mittellos; ihre Innenstadtwohnung kann sie von ihrer Rente ohnehin nicht mehr bezahlen.
Da sie außerdem ein kaputtes Knie hat, ist auch an eine Teilzeitbeschäftigung nicht zu denken. Eine Seniorenresidenz, die ihren Ansprüchen genügen würde, ist unbezahlbar. Auf der dritten Ebene des Films kommt schließlich das Privatleben des verwitweten Beamten ins Spiel: Sein unbehauster Bruder ist allem Anschein nach ein ähnlicher Chaot wie Willi; kein Wunder, dass Werner und Günter (Hannes Hellmann) seit Jahren keinen Kontakt mehr haben. Da Anna stets bestrebt ist, Gutes zu tun, sorgt sie dafür, dass die beiden grundverschiedenen Männer wieder miteinander sprechen.
Die Konflikte werden zwar allesamt seriös behandelt, aber trotzdem ist "Dicke Luft" äußerst unterhaltsam, weil Rauhaus, ein begnadeter Dialogschreiber, für diverse bissige Wortwechsel gesorgt hat. Annas Ex hat ohnehin stets einen flotten Spruch auf den Lippen ("Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg"), aber auch die Verbalscharmützel zwischen ihr und Kurtz sind ein großes Vergnügen; die herausragende schauspielerische Qualität dieses Trios tut ein Übriges.
Und dass die wichtigsten Mitwirkenden die sechzig zum Teil bereits deutlich überschritten haben, ist keineswegs gleichbedeutend mit einem gemächlichen Rollatortempo; Huettner hat den Film ganz im Gegenteil stellenweise recht flott inszeniert. Angesichts der Qualität lässt sich auch darüber hinwegsehen, dass Kurtz’ Auto mal ein Kölner, mal ein Bergheimer Kennzeichen hat.