"Das Vergangene ist nicht tot", hat William Faulkner einst in seinem Roman "Requiem für eine Nonne" (1951) geschrieben: "Es ist nicht einmal vergangen." Christa Wolf hat die Erkenntnis zum Auftakt ihres Romans "Kindheitsmuster" (1976) um einen wesentlichen Satz ergänzt: "Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd" – und davon handelt das Drama "Auf dem Grund". Der Film, dem das Faulkner-Zitat vorangestellt ist, folgt dem psychologischen Gesetz der Verdrängung: Alles, was vom Gehirn vor langer in den hintersten Winkel verbannt worden ist, kommt irgendwann wieder.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Prolog trägt sich 1984 zu, er beginnt mit stimmungsvollen Unterwasseraufnahmen und Ferienstimmung an einem See. Während sich die Eltern im Wohnwagen vergnügen, kommt die Tochter sichtlich schockiert aus dem Wasser.
Ein cleverer Übergang führt die Geschichte in die Gegenwart: Anne (Claudia Michelsen) galt einst als größtes Schwimmtalent ihrer Generation, aber ausgerechnet bei der Qualifikation für die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta haben ihre Nerven versagt. Damals ist sie buchstäblich abgetaucht; das war das Ende ihrer hoffnungsvollen Karriere. Heute ist sie Schwimmtrainerin und hofft, dass ihre Nichte Juli jene Ziele erreichen kann, die ihr versagt blieben.
Richtig los geht der Film aber erst, als Anne bei der Geburtstagsfeier ihrer Mutter Inge (Eleonore Weisgerber) im Keller eine Vase sucht und ein Glas mit bemalten Kieselsteinen findet; auf einem steht "1984". Plötzlich kippt die ohnehin nur bemüht fröhliche Stimmung, Inge reißt ihr das Glas förmlich aus der Hand. Der Stein bringt eine emotionale Lawine ins Rollen, die endlich freilegt, was Jahrzehnte lang verschüttet war; und Anne stößt auf ein dunkles Familiengeheimnis, das erklärt, warum sie ihrer Mutter nie etwas recht machen konnte.
Regisseur Thorsten M. Schmidt nimmt sich viel Zeit, um zum Kern des Traumas, das die Familie seit knapp vierzig Jahren belastet, vorzudringen. Das Drehbuch von Susanne Schneider ("Solo für Klarinette") und Astrid Ruppert ("Obendrüber, da schneit es") hätte sich auch als Drama mit Krimi-Elementen umsetzen lassen können, zumal Anne fast detektivisch vorgeht, um das Rätsel ihrer Vergangenheit zu lösen, nachdem sie in den Sachen ihrer Mutter weitere Hinweise entdeckt hat; aber die Handlung konzentriert sich ganz auf die Psyche der Figuren.
Dass hier ganz erheblich was nicht stimmt, offenbart der Film bereits vor dem Eklat bei der Geburtstagsfeier: Inge kann sich nur mit Hilfe von Tabletten aus ihrem offenbar chronischen Stimmungstief heraushelfen. Ehemann Helmut (Michael Wittenborn), pensionierter Deutschlehrer und stets ein gern gereimtes Zitat auf den Lippen, macht gute Miene zum bösen Spiel. Die beiden Töchter geraten ständig aneinander, weil Miriam (Karin Hanczewski) fürchtet, Anne würde Juli (Anna-Lena Schwing) mit ihrem projizierten Ehrgeiz um eine unbeschwerte Jugend bringen; am Ende will sie dem Teenager die Teilnahme am entscheidenden Qualifikationswettkampf verbieten.
Es schlummert also eine Menge aggressives Potenzial in dieser Geschichte, aber der erfahrene Schmidt, zu dessen besten Filmen die unsagbare traurige Siegfried-Lenz-Verfilmung "Arnes Nachlass" (ARD 2013, mit Jan Fedder) gehört, hat das Drama auch in dieser Hinsicht sehr behutsam umgesetzt. Natürlich wird viel gestritten. Nahezu jede Begegnung zwischen Anne und Inge mündet in gegenseitige Verletzungen, zumal Eleonore Weisgerber die Frau in der Tradition jener furchtbaren Filmmütter verkörpert, die ihren Töchtern scheinbar vorsätzlich das Leben schwer machen. Gleichzeitig versieht sie Inge jedoch mit einer berührenden Fragilität: Die Mutter ist längst unter einer Schuld zusammengebrochen, die sie stets ihrer Tochter in die Schuhe schieben wollte. Dass das Drehbuch die beiden Schwestern noch mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert – Annes Mann hat eine Geliebte, Miriam verliert ihre Stelle als Cellistin –, ist des Schlechten beinahe zuviel.
Zum Ausgleich profitiert der Film ganz außerordentlich von Schmidts Vorsatz, die Konflikte nicht nur mit Hilfe von Dialogen, sondern vor allem bildlich umzusetzen; für eine TV-Produktion ist das durchaus ungewöhnlich. Immer wieder driftet Anne in eine metaphysische Zwischenwelt ab; die Bildgestaltung durch Mathias Neumann lässt dabei geschickt in der Schwebe, ob es sich um Träume, Visionen oder echte Erlebnisse handelt. In der optisch imposantesten Szene taumelt die Frau wie in Trance ins Becken und taucht in eine scheinbar unermessliche Tiefe hinab. Auch die Unterwasseraufnahmen im See sind eindrucksvoll. Abgerundet wird die exzellente Kameraarbeit durch die Bilder von Julis Schwimmtraining; Neumanns Kameraarbeit sorgt dafür, dass das aufwändig inszenierte Finale ähnlich fesselnd ist wie ein echter Wettkampf.