Auf den ersten Blick wirkt diese schöne Tragikomödie über eine äußerst widerwillige Freundschaft wie eine Variation der Sat.1-Serie "Nachricht von Mama": Ein verwitweter Optiker bekommt gewissermaßen Lebenshilfe aus dem Jenseits, weil die Gattin geahnt hat, dass er sich nach ihrem Tod in ein Schneckenhaus verkriechen würde. Deshalb erreichen ihn einen Monat nach ihrem Ableben wie durch Zauberhand regelmäßig Videobotschaften, in denen Marlene (Teresa Harder) ihre "letzten Wünsche" formuliert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Erst wird ihm ein Hund geliefert, damit er regelmäßig vor die Tür kommt, dann soll er einen Tanzkurs besuchen. Außerdem bittet sie ihn, die kleine private Sternwarte auf dem Dach fertig stellen und Schulkinder zum Besuch einladen.
Eine Yogastunde steht ebenfalls auf dem Programm. Dabei hat Elmar Kern (Jürgen Heinrich), Ende sechzig, ganz andere Probleme: Damit das Ehepaar mehr Zeit für sich hat, haben die beiden die Hälfte ihres Leipziger Ladens in bester Lage der bundesweiten Kette "Weitblick" überlassen. Das Datum der Übergabe hat Elmar völlig vergessen, Überraschungen mag er ohnehin nicht, und deshalb bereitet er dem schnöseligen Regionalleiter aus Berlin einen ziemlich unherzlichen Empfang. Aber Vertrag ist Vertrag, und deshalb tauscht Frank Wolf (David Rott) die verstaubte Einrichtung ("wie vor der Wende") erst mal gegen das Standardinventar der Kette aus.
Weil Elmar das Geschäft weiterhin führen soll, muss er an einem Seminar für Filialeiter teilnehmen, wo seine Verkaufsmethoden alter Schule nichts mehr gelten: Bei "Weitblick" geht es nicht um Kundenbindung, sondern darum, möglichst viel zu verkaufen.
Autor Michel Birbæk erzählt also im Grunde zwei Geschichten, die jeweils auch für sich funktioniert hätten; doch erst die Kombination der beiden Ebenen macht aus "Freundschaft auf den zweiten Blick" einen immer wieder witzigen, hintergründig aber auch ziemlich melancholischen Film, denn Überflieger Frank, dem die Beförderung zum Gebietsleiter winkt, hat erhebliche Eheprobleme: Weil ihm die Karriere stets wichtiger war als das Familienleben, hat ihm seine Frau (Anna Maria Sturm) buchstäblich den Koffer vor die Tür gestellt; nun nächtigt er im Laden auf dem Sofa, das er eigentlich als erstes rauswerfen wollte.
Mit viel Gefühl für Zwischentöne sorgen Birbæk und Regisseur Holger Haase für eine vorsichtige Annäherung der beiden Männer. Dass Frank auch seine guten Seiten haben muss, offenbart seine prompte Begeisterung für den Hund, einen freundlichen Labradoodle, den Elmar in Ermangelung eines besseren Namens kurzerhand Sportsfreund nennt. Frank hat keine Ahnung, dass Elmars Frau gestorben ist, und interpretiert dessen Andeutungen flapsig als "Ärger im Paradies".
Als klar wird, dass die Männer nicht nur geschäftlich, sondern auch privat so etwas wie Schicksalsgefährten sind, beginnen sie endlich, Sympathie füreinander zu empfinden: Der eine trauert der Vergangenheit nach, der andere hat stets für die Zukunft gelebt; nun besinnen sich beide auf die Gegenwart. Und wie der Zufall im Film gern spielt, interessiert sich auch Frank leidenschaftlich für Astronomie.
Gespielt ist das alles famos, aber die eigentliche Qualität des Films liegt in der Kombination von Komödie und Tragödie. Gerade die Zwiegespräche zwischen Elmar und seiner Frau sind in dieser Hinsicht sehr gelungen, weil Marlene all’ seine Einwände vorwegnimmt. Jürgen Heinrich sorgt dafür, dass die Szenen, in denen er Marlenes Wunschliste abbaut, aller Trauer zum Trotz regelmäßig für großes Amüsement sorgen; am witzigsten in dieser Hinsicht ist seine prustende und schnaufende Teilnahme am Yogakurs (mit Julia Richter in einer Gastrolle als Yogalehrerin).
Ein zuverlässiger Heiterkeitsquell ist auch der Hund, der die Fürsorge für seinen neuen Besitzer vor allem nachts auslebt: Wie "Sportsfreund" hartnäckig versucht, sich neben Elmar, der seit Marlenes Tod unter Ehebettflucht leidet, aufs Sofa zu quetschen, ist nicht nur ausgesprochen witzig, sondern auch prima Tiertraining. Die Tanzstunden sind dagegen was fürs Herz: Kursleiterin Anna (Heike Trinker) ist ebenfalls verwitwet und hat entsprechend viel Verständnis für seine Situation; erst später zeigt sich, dass sie in Marlenes Plänen auch in anderer Hinsicht eine entscheidende Rolle spielt. Nebenbei ist der Film zudem eine Hommage an Leipzig.
Haase hat zuletzt vorwiegend Beiträge für die sehenswerte ZDF-Reihe "Ella Schön" (mit Annette Frier als autistische Juristin) gedreht. Mit Birbæk hat er bereits bei "Bodycheck" (2017) zusammengearbeitet. Die amüsante Komödie mit Hannes Jaenicke ist wie die meisten Filme des Regisseur für Sat.1 entstanden, darunter auch "Die Ungehorsame" (2015), ein erschütterndes Drama über Gewalt in der Ehe, sowie zuletzt der anspruchsvolle Stalker-Film "Lautlose Tropfen" (2019), aber davon abgesehen besteht seine Filmografie überwiegend aus Heiterkeiten wie "Bollywood lässt Alpen glühen" oder "Im Spessart sind die Geister los".
Seine Komödien sorgen stets für Lebensfreude, aber hier wird die Botschaft durch Marlene auch ausdrücklich formuliert: Genieß’ das Leben, widme dich dem, was dich glücklich macht, öffne dich für Neues – und hör’ nicht auf zu tanzen!