Ein dreijähriges Mädchen wird von seinen Eltern auf einer Parkbank abgesetzt und muss sich fortan allein durchs Leben schlagen: was für ein tragischer Handlungskern! Erst fünfzig Jahre später hat Klara erfahren, warum sie als Kind in Heimen und Pflegefamilien aufwachsen musste: Ihre Eltern haben damals eine Bank überfallen. Die Mutter ist dabei gestorben, der Vater anschließend für lange Zeit im Gefängnis verschwunden.
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Allein diese Vorgeschichte macht die von Mariele Millowitsch als Frau mit klaren Prinzipien verkörperte Klara Sonntag zu einer interessanten Figur. Im zweiten Film ist das persönliche Schicksal der Kölner Bewährungshelferin zwar nur ein Nebenstrang, aber natürlich hat diese Ebene eine große Wirkung, auch wenn die Begegnungen mit dem Vater sehr distanziert verlaufen: Klaras Devise "Jeder hat eine zweite Chance verdient" schließt ihren Erzeuger nicht mit ein. Christian Grashoff sorgt allerdings dafür, dass die Szenen dennoch sehr berühren: Rudi Dülmen ist kein hartgesottener Berufsganove, sondern ein Mann, der seine Taten bitter bereut. Klara lässt sich jedoch erst erweichen, als sie eine Theateraufführung im Gefängnis besucht und Rudi mitten im Schiller-Drama "Die Räuber" kurz aus der Rolle fällt und sie um Vergebung bittet; dieser Moment ist der emotionale Höhepunkt des Films.
Wie die anderen ARD-Freitagsreihen kombiniert auch "Klara Sonntag" die durchgehende Geschichte mit einer in sich abgeschlossenen Herausforderung. Der Titel "Liebe macht blind" bezieht sich auf eine Klientin Klaras: Die junge Mutter Eda (Soma Pysall) ist erwischt worden, als sie drei Kilo holländisches Marihuana nach Deutschland schmuggeln wollte. Ihr Sohn ist sieben, auf den Vater des Jungen ist kein Verlass, deshalb hat das Gericht Gnade vor Recht ergehen lassen und die Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt; allerdings muss Eda Sozialstunden leisten.
Während Corona in den allermeisten Fernsehfilmen und Serien tunlichst ausgespart worden ist, macht Sebastian Orlac, der bereits das Drehbuch zur ersten Episode ("Kleine und große Fische") geschrieben hat, die Pandemie zu einem wichtigen Teil der Geschichte: Edas Lebensgefährte Nico (Tobias Joch) ist ein prominenter DJ, aber die Zeit der Veranstaltungsverbote hat ihn völlig aus der Bahn geworfen. Das Rauschgiftgeld stammte zudem von Leuten, bei denen man besser keine Schulden hat, und natürlich wollen die Typen ihre Investition zurückhaben; deshalb soll Eda noch mal nach Amsterdam fahren.
Angesichts dieser doppelten Drama-Ebene ist es umso erstaunlicher, dass "Liebe macht blind" ein vergleichsweise leichter Film geworden ist. Das liegt vor allem an einem Hund, der aus Ermangelung eines richtigen Namens kurzerhand "Keine Ahnung" genannt wird. Das Tier ist Klara mehr oder weniger zugelaufen und sorgt für allerlei Heiterkeiten: Die Bewährungshelferin ist vorübergehend zu ihrem Freund Thomas (Bruno Cathomas) gezogen, weil ihr Bad renoviert wird.
Der Richter betrachtet das Zusammenleben als Probelauf für Klaras endgültigen Einzug und ist über den neuen Mitbewohner zunächst alles andere als begeistert, aber dann werden Herr und Hund ein Herz und eine Seele. Dem Tier ist bei der Postproduktion zwar allerlei überflüssiges Gejaule ins Maul gelegt worden, aber davon abgesehen sind die entsprechenden Szenen sehr witzig.
Überhaupt hat Jeanette Wagner Orlacs Drehbuch recht flott umgesetzt. Ihre bisherigen Fernsehfilme sind ausschließlich für das Sonntags-"Herzkino" des ZDF entstanden, darunter eine sehenswerte "Froschkönig"-Variation (2018) sowie zuletzt der allerdings wie eine Reisereportage wirkende Fernwehfilm "Ein Sommer an der Algarve" (2019). Ihr Debüt war "liebeskind", ein ursprünglich fürs Kino entstandenes stilles Inzestdrama, das vom ZDF 2006 im Rahmen des "Kleinen Fernsehspiels" ausgestrahlt worden ist.
Die Freitagsfilmpremiere der Regisseurin zeichnet sich nicht zuletzt durch die gute Arbeit mit dem Ensemble aus, zu dem wie schon beim ersten Film Thelma Buabeng als Klaras patente Freundin und Kollegin sowie Jasmin Schwiers als schlecht gelaunte Chefin gehören. Sehr präsent ist auch Episodenhauptdarstellerin Soma Pysall, die bereits einige Male positiv aufgefallen ist - unter anderem als traumatisierte Polizistin in einem "Tatort" aus Kiel ("Borowski und der Fluch der weißen Möwe", 2020) und in der Neo-Serie "Loving Her" (2021). "Keine Ahnung" wird hingegen wohl kein festes Familienmitglied werden: Der Film endet überraschend mit zwei außerordentlich betrüblichen Nachrichten für Klara.