Jeder Krimi ist auch ein Drama, das oft tief ins Dasein der Betroffenen eintaucht. Ausgerechnet die ermittelnden Hauptfiguren sind jedoch in der Regel Menschen ohne Privatleben oder Vorgeschichte. Vielleicht haben Filme, in denen sie plötzlich selbst im Mittelpunkt stehen, deshalb einen speziellen Reiz: weil sich nun offenbart, dass sie durchaus verletzlich sind.
Schon in der vorherigen "Sarah Kohr"- Episode, "Stiller Tod", hat Timo Berndt eine alte Schuld offenbart, die die Heldin (Lisa Maria Potthoff) einst als Teenager auf sich geladen hat. Nun erzählt der Autor, der seit dem zweiten Film alle Drehbücher für die Reihe schreibt, wie es damals weitergegangen ist: Nach dem tragischen Tod ihres kleinen Bruders ist Sarah ausgerissen, hat sich in einen einige Jahre älteren jungen Mann verliebt und ist auf diese Weise in einen Sumpf aus Drogensucht und Kriminalität geraten. Das ist lange her und längst vergeben, zumindest aus Sicht der Ordnungsbehörden, schließlich hat sie irgendwann die Kurve gekriegt und ist Polizistin geworden.
Vergessen ist diese Zeit jedoch nicht, und nun kehren sie zurück, die "Geister der Vergangenheit", wie die siebte Episode heißt. Genau genommen ist es vor allem ein Geist, der Sarah heimsucht, aber er hat es gar nicht auf sie abgesehen, sondern auf den Hamburger Staatsanwalt Mehringer (Herbert Knaup), denn der hat einst dafür gesorgt, dass Lorenz Degen (Anatole Taubman) für immer im Gefängnis verschwindet.
Sarah war Mehringers Kronzeugin; im Gegenzug wurde ihre Akte gelöscht, sodass sie ein neues Leben beginnen konnte. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Anklage basierte auf einem Betrug. Nun ist Degen die Flucht aus dem Gefängnis gelungen, und er macht umgehend klar, dass er Rache will; aber das ist nur die eine Hälfte der Handlung. Die andere ist ein Coup, der ihn reich machen soll; und auch dieser Teil der Geschichte hat in Sarahs Jugend begonnen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Je länger der Film dauert, desto mehr offenbart sich, wie raffiniert Berndt sein Drehbuch konzipiert hat. Die Umsetzung durch Bruno Grass, der auch schon die nicht minder sehenswerte Episode "Schutzbefohlen" (2021) inszeniert hat, entspricht dieser Qualität voll und ganz, und das nicht nur wegen der gut choreografierten Kampf-Szenen und einer Action-Einlage, als die Polizistin einen Fluchtwagen mit einem über den Asphalt schlitternden Motorrad stoppt.
Bildgestaltung und Musik bewegen sich ohnehin auf hohem Thriller-Niveau. Aber auch Grass’ Arbeit mit dem Ensemble ist exzellent, wobei es die beste Entscheidung war, die Schurkenrolle Anatole Taubman anzuvertrauen. Mit seinem sanften Blick und der markanten Stimme ist der Schweizer eine ganz vorzügliche Besetzung für diesen Mann, der sich nach einem friedlichen Lebensabend sehnt, aber nach wie vor skrupellos über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen; schließlich ist das Leben bloß ein Geschäft.
Als erste Tat nach dem Ausbruch sucht der Verbrecher mit zwei seiner Schergen Kohr im Fitnessstudio auf, weshalb der Film mit einer zünftigen Prügelei beginnt, bei der Lisa Maria Potthoff wieder ihre außerordentlichen Kampfkünste unter Beweis stellen kann. Die Szene hat jedoch nicht nur sportiven Charakter. Degen schaut sich die Auseinandersetzung aus sicherer Distanz an. Wollte er Kohr töten, könnte er sie jetzt mit Leichtigkeit erledigen. Aber er weiß, dass die junge Sarah einst nur Mehringers Werkzeug war, seine Vergeltung gilt dem Staatsanwalt, weshalb er als Nächstes vor den Augen des hilflosen Vaters dessen kleinen Sohn entführt.
Natürlich ist "Geister der Vergangenheit" in erster Linie ein Thriller, schließlich steht das Leben des kleinen Hendrik auf dem Spiel. Das wäre im Grunde schon dramatisch genug, doch Berndt setzt noch eins drauf: Die Beziehung des Ehepaars Mehringer ist ohnehin ziemlich angeschlagen, weil der Staatsanwalt mal ein Verhältnis mit Kohr hatte. Aber als er seiner Frau Anna (Stefanie Eidt), ebenfalls Polizistin, nun gestehen muss, mit welchem Trick er Degen einst hinter Gitter gebracht hat, gesellt sich zu ihrer Sorge um den Sohn auch noch Abscheu gegenüber dem Gatten, denn ohne dessen damalige Rechtsbeugung würde Hendrik jetzt nicht in Lebensgefahr schweben.
Später trägt ausgerechnet Anna Mehringer die Schuld daran, dass eine schon so gut wie gelungene Befreiungsaktion des Jungen misslingt. Seine besondere Faszination verdankt der Film zudem einer inneren Zeitreise der Heldin: Sarahs Freund ist damals Jahren nach einem gemeinsamen Einbruch in eine Villa spurlos verschwunden. Sie erinnert sich nur noch an den Namen der Familie, der das Haus gehörte: Wittgenstein. Wie Berndt seinem Drehbuch mit Hilfe dieses Bruchstücks, aus dem sich eine eigene Geschichte entwickelt, eine weitere Ebene hinzufügt, ist große Erzählkunst.
Zunächst jedoch muss sich Kohr den Dämonen ihrer Jugend stellen. Immerhin gönnt der Autor seiner Heldin auch angenehme Momente, denn es gibt ein Wiedersehen mit einer Figur aus der jüngeren Vergangenheit: Beim blutigen Ausbruch Degens ist ein Mithäftling verletzt worden. Er entpuppt sich als Artem Lasarew, den Widersacher Kohrs aus "Das verschwundene Mädchen" (2019); Torsten Michaelis hat die Rolle von Ulrich Matthes übernommen. Mit Lasarews Sohn, dem Barbesitzer Danylo (Golo Euler), hatte sie eine Liebelei; nun begegnen sich die beiden wieder. Außerdem stellt sich raus, dass sich ihre Wege in gewisser Weise schon vor zwei Jahrzehnten gekreuzt haben. Danylo hat zudem maßgeblichen Anteil an einem letzten Knüller, den sich Berndt für den Epilog aufgehoben hat: Der Schluss ist die emotionalste Szene des Films.