Moskauer Patriarch verliert Gläubige in Ukraine

Wladimir Putin und Kyrill I.
© dpa / Alexei Druzhinin/Pool Sputnik Kremlin
Wladimir Putin und Kyrill I. (links) zündeten im September 2021 gemeinsam Kerzen zur Einweihung einer Gedenkstätte an.
Ostkirchen-Expertin
Moskauer Patriarch verliert Gläubige in Ukraine
Der orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill I. hat sich nach Ansicht der Ostkirchen-Expertin Dagmar Heller von der Realität des Ukraine-Kriegs entfernt. Seine Beziehung zu Präsident Wladimir Putin sei zudem so eng, dass er sich kaum öffentlich gegen ihn stellen könne, sagte die Leiterin des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes im Interview.

epd: Das Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche wird seit Ausbruch des Krieges aufgefordert, im Konflikt zu vermitteln. Warum setzt sich Patriarch Kyrill nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs nicht eindeutiger für Frieden ein?

Dagmar Heller: Die Frage ist schwer zu beantworten. Am Tag des Einmarsches forderte er "alle Konfliktparteien" auf, "alles zu tun, um zivile Opfer zu vermeiden". Er rief dabei zum Gebet "für die baldige Wiederherstellung des Friedens" und zur Hilfe für die Opfer auf. Den Aufruf zum Gebet wiederholte er in seiner Predigt am 27. Februar. Interessant ist dort, dass er dabei vom "Frieden in der Weite des historischen Russlands" spricht und die Einheit "unseres Volkes" und die Bande beschwört, "die durch die gemeinsame Taufe und die mehr als 1000-jährige Tradition des gemeinsamen geistlichen Lebens entstanden sind." Damit spielt er auf die Zusammengehörigkeit von Russen und Ukrainern an, ohne die Ukrainer als eigenständiges Volk zu benennen.

Gibt es andere Kirchen in Russland, die sich mehr für den Frieden einsetzen?

Heller: Die Äußerungen zum Beispiel des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland gehen auch nicht viel weiter, als zum Gebet für den Frieden aufzurufen. Und das gilt auch für die Baptistenunion in Russland und andere protestantische Kirchen.

Welche Themen stehen bei Kyrill noch im Hintergrund?

Heller: In seiner Sonntagspredigt vom 6. März hat sich Patriarch Kyrill noch einmal zum Krieg geäußert und dabei seine Sicht der Dinge deutlich gemacht: Offenbar versteht er den Kampf in der Ukraine als Krieg (hier benutzt er auch das Wort "Krieg") des Lichts gegen die sündigen Werte, die von den "Weltmächten" den wahren Orthodoxen in der Ukraine beziehungsweise dem Donbass aufgezwungen werden, insbesondere die Sünde der Homosexualität, die sich in den Gay Parades ausdrückt.

Diese Äußerung weist darauf hin, dass Patriarch Kyrill offenbar in einer Welt lebt, die sich weit von der Realität entfernt hat. Hier hat sich meines Erachtens seine Fixiertheit auf die "christlichen Werte", die er dem Westen vorwirft mit Füßen zu treten, so sehr verselbständigt, dass er das Wesen dieses Krieges und das Ziel dieses Krieges völlig aus den Augen verloren hat.

Dagmar Heller ist evangelische Pfarrerin und Referentin für Orthodoxie am Konfessionskundlichen Institut in Bensheim.

Wie sind alle diese Äußerungen einzuordnen?

Heller: Zum einen gilt sicher, dass Patriarch Kyrill sich in einem Dilemma befindet, das ihn daran hindert, sich eindeutiger zu äußern: in der orthodoxen Kirche beruft man sich auf die "Symphonia" zwischen Kirche und Staat wie sie - in einem Idealbild - angeblich im alten Byzanz bestanden hat. Diese Theorie, in der es um die Zusammenarbeit von Kirche und Staat geht, bei der jede Seite ihre eigene Aufgabe hat, die gemeinsam zum Wohl der Gesellschaft führen sollen, ist von Patriarch Kyrill immer wieder hervorgehoben worden.

Das Dilemma ist nun, dass er auf diesem Hintergrund in enger Beziehung, um nicht zu sagen Abhängigkeit, von Präsident Putin steht, so dass er sich kaum öffentlich gegen ihn stellen kann. Bekanntlich steht inzwischen auf die Benutzung des Worts "Krieg" in Bezug auf den Überfall auf die Ukraine eine Gefängnisstrafe. Gleichzeit befindet sich ein Teil der Gläubigen von Kyrill in der Ukraine und wartet auf ein klares Wort von seiner Seite.

"Russland als Aggressor"

Gibt es andere Äußerungen russisch-orthodoxer Bischöfe?

Heller: Nun hat allerdings das Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört, Metropolit Onufrij, der übrigens im Heiligen Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche sitzt, sehr deutlich Russland als den Aggressor dargestellt und den Krieg als Bruderkrieg und als "eine Wiederholung der Sünde Kains" bezeichnet. Es wäre interessant zu wissen, ob er das in Absprache mit Patriarch Kyrill getan hat oder in eigener Verantwortung.

Welche Rolle spielen die orthodoxen Kirchen in der Ukraine?

Heller: In der Ukraine selbst treten die beiden orthodoxen Kirchen in der Verurteilung des Angriffs und dem Bekenntnis zur Souveränität der Ukraine in seltener Einigkeit auf. Ob sie aber zu Friedensstiftern werden können, muss sich erst noch zeigen. Vermutlich können sie nicht viel ausrichten, um die Angriffe zu stoppen. Denkbar wäre das nur, wenn Patriarch Kyrill davon zu überzeugen wäre, dass er auf Präsident Putin einwirkt.

In mehreren Appellen - vom Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, vom Präsidenten der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), vom Oberhaupt der in der Ukraine parallel zum Moskauer Patriarchat existierenden Orthodoxen Kirche der Ukraine sowie von einer Anzahl Priester seiner eigenen Kirche in Russland - wurde er dazu aufgefordert - bisher ohne Ergebnis. Gerade seine letztgenannte Äußerung gibt allerdings leider auch nicht viel Anlass zur Hoffnung, dass diese Appelle Frucht tragen werden.

Wie könnte die Kirchenlandschaft der Ukraine nach Ende des Krieges aussehen?

Heller: Meines Erachtens werden die Kirchen in der Ukraine noch eine wichtige Rolle für die Versöhnung nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges spielen. Um genauer zu sehen, wie, muss man jedoch noch abwarten, wie sich die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats entwickelt: derzeit haben mehrere Diözesen in der Ukraine aufgehört, Patriarch Kyrill in der Liturgie zu kommemorieren, also zu gedenken; das bedeutet einen ersten Schritt zur Abspaltung. Das heißt, Kyrill verliert seine Gläubigen in der Ukraine. Die Frage ist, wie weit das geht, und ob das letztlich zu einer einzigen orthodoxen Kirche in der Ukraine führen wird.