"Mein Herz und mein Kopf platzen"

Grossmutter Ljuba Semenjuk und ihre Familie bei Herwig Sager
© epd-bild/ Harald Koch
Kaffeetrinken in Sicherheit: Die 13-jährige Zlata (2.v.li.) ist mit ihrer Mutter Oksana (3.v.li.), ihrem Cousin Dima (2.v.re.) und ihrer Großmutter Ljuba Semenjuk bei Herwig Sager von der "Kinderhilfe Kovel" untergekommen. Die Dolmetscherin war schon oft bei ihm zu Gast, jetzt kommt sie als Flüchtling.
Ukrainische Familie findet Schutz
"Mein Herz und mein Kopf platzen"
Seit 30 Jahren besucht Ljuba Semenjuk Walsrode - als Dolmetscherin für ukrainische Ferienkinder. Dass sie als Kriegsflüchtling kommen würde, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Doch jetzt ist sie da - mit ihrer Tochter und zwei Enkelkindern.

Zlata und "Tante Hedwig" sind unzertrennlich. Den ganzen Tag schmusen und toben sie. Kommt Zlata ein Fremder zu nah, knurrt der Schweizer Sennhund. Ein Wachhund eben. Er ist den Menschen treu, gibt Schutz und warnt bei Gefahr - all das benötigt die 13-Jährige in diesen Tagen mehr denn je.

Zlata ist mit ihrer Mutter Oksana, ihrem Cousin Dima und ihrer Großmutter Ljuba Semenjuk am Mittwoch im Walsroder Ortsteil Bomlitz im Landkreis Heidekreis angekommen. Sie sind vor dem Krieg aus ihrer Heimatstadt Kovel in der West-Ukraine geflohen. Jetzt wohnen die vier bei Herwig Sager, im Haus seiner kürzlich verstorbenen Mutter. In den offiziellen Einrichtungen der Landesaufnahmebehörde sind seit Beginn des Ukrainekonflikts bis zum Wochenende rund 500 Personen aufgenommen worden.

Ljuba kennt Bomlitz, und sie kennt Herwig Sager. Sie war schon oft bei ihm zu Gast. Seit mehr als zehn Jahren dolmetscht die 62-Jährige für die "Kinderhilfe Kovel", einen Verein, der Anfang der neunziger Jahre infolge des Reaktorunglücks in Tschernobyl entstanden ist und Erholungsurlaube für ukrainische Kinder bei Gastfamilien organisiert.

Das erste Mal kam Ljuba 1992 mit ihrer damals zehnjährigen Tochter Oksana. Fröhliche Sommerfeste und blauer Himmel - das war Walsrode für die Semenjuks. "Wir haben immer so viel gelacht und jetzt?", fragt die zierliche Frau, und die Tränen laufen ihr unablässig über das Gesicht.

Plötzlich ist Ausnahmesituation

Nie habe sie sich träumen lassen, dass es so weit kommen könnte. Natürlich gäbe es schon lange Sorgen und Ängste, aber die Separatistengebieten Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine lägen weit von der 70.000-Einwohner-Stadt Kovel entfernt, fast 1.200 Kilometer. Dass Russland die gesamte Ukraine angreifen würde? Undenkbar.

"Ich wollte nicht weg", sagt Ljuba, die bereits viele Jahre verwitwet ist, "aber dann rief Oksana mitten in der Nacht und sagte, Bomben würden fallen, da haben wir gepackt." Eine kleine Tasche für jeden, 20 Minuten später ging es los. Mit Sager standen sie bereits in Kontakt. "Wir haben auch vor dem Angriff oft miteinander telefoniert." Für Sager stand außer Frage, dass er helfen würde. Auch dem 62-Jährigen fehlen die Worte. Er wischt sich Tränen aus den Augen. "Ich hätte nie gedacht, dass das passieren könnte."

Die 13-jährige Zlata findet Geborgenheit und Trost beim Spielen mit dem Hund im Wohnzimmer.

Die Männer bleiben in der Stadt

Die Frauen sorgen sich jede Stunde, jede Minute. An Schlaf ist nicht zu denken. "Mein Kopf und mein Herz platzen", sagt Ljuba und reibt sich die Schläfen. Ihre Gedanken sind vor allem bei Sirgei, Ljubas Sohn und Dimas Vater, sowie Oksanas Mann Vitali. Beide sind in Kovel geblieben. Sie sind 43 und 40 Jahre alt und dürfen die Ukraine nicht verlassen. Das wollen sie auch nicht, wie Oksana betont. Die Männer bauten Barrikaden und Molotow-Cocktails, transportierten Lebensmittel und Medikamente. "Sie helfen, unsere Stadt zu beschützen", sagt sie.

Michael Haacke ist langjähriger Vorsitzender der "Kinderhilfe Kovel". Als er eine "SOS-Mail" aus dem Rathaus Kovel erhielt, mit der Bitte, Unterkünfte zu besorgen, startete er einen Aufruf. Mehr als 200 Menschen meldeten sich und boten Zimmer an, nicht nur in der Region, "sondern aus einem Gebiet von Bremen bis Holzminden", sagt Haacke.

Er selbst hat sich Freitagnacht mit einem Reisebus auf den Weg Richtung Ukraine gemacht. Im polnischen Che?m will er Flüchtlinge aus Kovel übernehmen, die sich mit einem von der "Kinderhilfe Kovel" organisierten Bus auf dem Weg zur Grenze gemacht haben - unter ihnen eine weitere langjährige Dolmetscherin des Ferienprojekts mit ihrer 87-jährigen Mutter. "Dass diese Frau, die im Zweiten Weltkrieg Fürchterliches erlebt hat, das Vertrauen gefunden hat, zu uns zu kommen, rührt mich zutiefst", sagt Haacke.

Dass die Hilfe für die Ukraine in Walsrode so effizient läuft, liegt Haackes Ansicht nach in der langjährigen, engen Verbindung mit Kovel. Die Partnerschaft, die 2003, lange nach der Vereinsgründung, geschlossen wurde, habe auf einem vertrauensvollen Miteinander aufsetzen können. Das sei wichtig. "Die Menschen haben die Städtepartnerschaft mit Leben gefüllt", sagt der 62-jährige Tischler, "die existiert nicht nur auf dem Papier."

Kinderhilfswerke organisieren Flüchtlingshilfe

Eine weitere lebendige Städtepartnerschaft mit Kovel gibt es knapp 100 Kilometer südlich von Walsrode. Barsinghausen (Region Hannover) und Kovel sind seit 2008 offiziell verbunden. Auch hier gibt es einen Verein, die "Kinderhilfe Ukraine", die jeden Sommer sozial benachteiligte Kinder aus der ukrainischen Stadt aufnimmt.

An diesem Wochenende erwartet der Verein 50 Kinder. Sie werden ebenfalls alle privat unterkommen. "So schlimm es ist, dass sie von ihren Familien getrennt sind, ich bin sicher, dass es für die Eltern eine große Entlastung ist, ihre Kinder in Sicherheit zu wissen", sagt die zweite Vorsitzende Andrea Gaede.

In Walsrode laufen derweil weitere Hilfsaktionen. Während Ljuba, Oksana, Dima und Zlata mit Sagers Hilfe versuchen, über das Unfassbare zu sprechen und etwas Zuversicht zu finden, sind Haacke und seine Mitstreiter dabei, einen LKW mit Sachspenden zu beladen. Anfang der Woche wollen sie losfahren. "Es ist gut, dass wir so viel zu tun haben", sagt Haacke, "das lenkt etwas ab."