Kriegsgegnerin: "Ich habe Angst"

zerstörte Universität von Charkiw
© dpa Emergency Service Of Ukraine/PA/
Anna aus Russland hat früher oft Charkiw besucht, "eine Stadt, die ihrer Heimatstadt ähnlich ist." Das Fakultätsgebäude der Universität Charkiw wurde bombardiert. Anna berichtet evangelisch.de von ihren Gedanken und Hilfsversuchen.
Eine Stimme aus Russland
Kriegsgegnerin: "Ich habe Angst"
Anna* kommt aus Russland und ist Studentin. Sie hat einen engen Bezug zu Europa. Umso mehr hat sie der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert. Auf evangelisch.de wird sie regelmäßig von ihren Eindrücken und Erlebnissen berichten.

Ich kann nicht leugnen: Ich habe Angst. Angst um meine Zukunft, die erst vor kurzem noch ganz klar und schön war. Um meine Freund:innen, die bei Demonstrationen verhaftet wurden. Um meine Familie. Aber die Angst der Menschen, die sich jetzt vor den Bomben verstecken müssen, kann ich mir kaum vorstellen. Meine Oma erzählte mir von diesem Gefühl. Sie kennt es, weil ihre Heimatstadt 1942 bombardiert wurde. Aber ich verstehe, dass ich den Schmerz der Ukrainer nie begreifen werde. Weil ich in einer friedlichen Stadt wohne.

Vor kurzem wurde Charkiw bombardiert. Die Stadt, die ich früher besuchte, die meiner Heimatstadt ähnlich ist. Typische sowjetische Viertel mit grauen Kastenhäusern und bunten Ladenschildern. Für mich waren sie immer eine Verkörperung von Ruhe und Stabilität…

Ich bin keine Politikerin und keine Historikerin. Meine eigene politische Position spielt hier keine Rolle. Vermuten wir mal, ich gebe zu, dass das, was ich über die Situation in der Ukraine weiß, Lügen und Manipulationen sein können. Aber ich sehe, dass dort Gewalt passiert, dass tausende Menschen alles verlieren, was sie hatten. Und für mich ist es genug.  Was kann ich aber für sie tun?

Spenden an die ukrainische Armee sind verboten, und 20 Jahre im Gefängnis sind nicht der Preis, den ich bezahlen möchte. Aber ich gucke nach Möglichkeiten, den Flüchtlingen zu helfen, wenn nicht mit Geld, dann wenigstens mit Kleidung.

Flugblätter? Natürlich! Das machen viele von uns. Jemand druckt sie aus, jemand malt sie einfach auf ein Stückchen Papier. "Nein dem Krieg!", "Stoppt die Gewalt!", "Ja – dem Frieden!". Man kann sie an die Wände kleben oder in Briefkästen werfen. Sie auf der Straße zu verteilen ist ziemlich gefährlich, obwohl es legal ist. Die Polizei tut alles, um Agitation gegen den Krieg zu verhindern.

Demonstrationen? Auch eine gute Idee. Aber man muss bereit sein, vor den Polizisten zu fliehen. Obwohl Russland ein demokratischer Staat ist, wo jeder offen seine politische Position zeigen darf (das steht ja in der Verfassung), muss man zuerst eine Erlaubnis für eine Demonstration bekommen. Und die Regierung erlaubt keine Maßnahmen, die ihr oppositionell erscheinen. Deswegen sind alle Demonstrationen für den Frieden illegal. Und es gibt trotzdem viele Menschen, die daran teilnehmen.

Wenn man dann verhaftet ist, kann man kostenlose Hilfe vom OVD-Info bekommen – das ist ein russisches Menschenrechtsprojekt zur Bekämpfung politischer Verfolgung. Für eine illegale Demonstration bekommt man meistens eine Geldstrafe von 10.000 Rubel (ca. 100 Euro) oder eine Haftstrafe von 10 bis 15 Tagen – nicht so viel, aber auch nicht wenig, besonders für Student:innen.

Online-Petitionen sind ein legales Mittel, pazifistische Ideen zu äußern. Die größte davon, auf der Change.Org-Plattform, hat bereits mehr als eine Million Unterschriften gesammelt und dies wird, soviel ich aus den Nachrichten weiß, bald direkt an Putin weitergeleitet sein. Ich unterschreibe jede Petition, sie ich sehe – von Student:innen, Menschenrechtsorganisationen, politischen Parteien… Sogar wenn sie nichts verändern werden, sie zeigen, wie viele (tatsächlich viele) Menschen in Russland gegen diesen Krieg sind. Das ist ein Zeichen, dass die Gesellschaft lernt, sich zu vereinen und sich selbst zu organisieren.

Aber das Einfachste, was man als Kriegsgegner:in in Russland machen kann, ist zu schreiben. Zu reden. Nicht zu schweigen. Offen zu erzählen, wie schrecklich dieser Krieg ist. Es gibt immer noch Menschen in Russland, die der Propaganda glauben, und es gibt viele Menschen in der Welt, die sicher sind, dass alle Russen die Regierung unterstützen. Das Problem ist sogar nicht nur in der Regierung. Ich kenne Leute, die Putin mögen, aber trotzdem gegen den Krieg sind. Das wichtigste jetzt ist, die Gewalt zu stoppen. Alle anderen politischen Problemen können auch später gelöst werden.