"Meines Erachtens hat der Angriffskrieg der russischen Regierung gegen die Ukraine nicht nur die nach 1989 entstandene Sicherheitsordnung umgestoßen", sagte der Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien dem epd. Dies nötige auch dazu, die "Grundpositionen der evangelischen Friedensethik der letzten Jahrzehnte noch einmal zu überdenken."
So hält Körtner die Entscheidung der Bundesregierung, die Bundeswehr deutlich besser auszustatten, für richtig und überfällig. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) werde "zu dieser langfristigen Entscheidung Stellung beziehen müssen. Bislang schweigt sie sich zu diesem Punkt aber aus." Wer militärische Mittel - im Sinne der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 - als Ultima ratio nicht ausschließe, müsse auch "die Beschaffung und Bereitstellung entsprechender Mittel befürworten".
Dass die friedensethischen Positionen der EKD noch einmal kritisch bedacht werden müssen, habe sich schon im Zusammenhang mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gezeigt, fügte Körtner hinzu.
Man könne beobachten, dass von der Friedensdenkschrift der EKD von 2007 mit dem Schlagwort des gerechten Friedens bis zur friedensethischen Resolution der EKD-Synode von 2019 sich eine Entwicklung in "Richtung eines prinzipiellen, um nicht zu sagen radikalen Pazifismus vollzogen hat." Körtner: "Ich glaube, dass diese Position in Zukunft nicht mehr haltbar ist." Die evangelische Kirche begebe sich in Gefahr, sich mit ihrer bisherigen Friedensethik in eine Form von "Sektenmentalität" hineinzubegeben.
So habe auch der Reformator Martin Luther zwar Angriffskriege verurteilt, Verteidigungskriege aber gerechtfertigt. Ein Christ solle zwar grundsätzlich auf Gewalt verzichten, aber um des Nächsten willen könne die Anwendung von Gewalt geboten sein, etwa wenn das Leben von Frauen und Kindern geschützt werden müsse. Die Bereitschaft zum Dialog, der Einsatz für Versöhnung und eine glaubhafte Verteidigungsbereitschaft schlössen einander nicht aus.
Grundsätzlich beklagt Körtner ein "unterentwickeltes Verständnis für Geopolitik in Deutschland und vielleicht auch in Europa". Europa begreife sich vor allem als Wirtschaftsmacht mit diplomatischem Einfluss: "Man hat zu lange nicht begriffen, dass zur Geopolitik auch eine militärische Komponente gehört." Damit sei aber keine Militarisierung der Geopolitik gemeint. Körtner: "Das ist glaube ich in der bisherigen Friedensethik der EKD nicht genügend durchdacht worden."
In der gegenwärtigen Situation gebe es zudem wieder die "Kategorie des Feindes". Die gegenwärtige russische Regierung betrachte den Westen ganz klar als Feind: "Es wäre naiv, diese zu umarmen und zu sagen: Ihr seid nicht unsere Feinde." Demokratien müssten auch wehrhaft sein, betonte Körtner.