Das mehrfach mit dem Grimme-Preis geehrte Duo seziert Beziehungen nun schon seit gut zwanzig Jahren und fast ebenso vielen Filmen. Ihre Werke behandeln zwischendurch auch mal andere Stoffe, aber die beiden kehren regelmäßig zu einem Kernthema zurück: In ihren besten Dramen ging es stets um die Fliehkräfte innerhalb von Familien.
"Eine fremde Tochter" bringt eine neue Facette ins Spiel: Oliver (Mark Waschke), einst ein gefeierter Zehnkämpfer, der Legendenstatus genießt, seit er bei einer Weltmeisterschaft trotz Schädelbruchs eine Bronzemedaille errang, hat sich während seiner aktiven Zeit nicht getraut, zu seiner Homosexualität zu stehen. Seine 15-jährige Tochter Alma wirft ihm deshalb vor, die Familie nur als Tarnung benutzt zu haben. Tatsächlich hat Oliver Frau und Tochter nach dem Ende der Karriere verlassen, seither lebt er mit Felix (Wanja zusammen).
Diese Konstellation allein böte Dramenstoff genug, doch Nocke und Krohmer spitzen sie auf schockierende Weise zu: Der Film hat kaum begonnen, da wird Almas Mutter aus dem Leben gerissen, als sie fröhlich mit der Tochter plaudernd bei Grün über die Straße geht und überfahren wird. Ihre zupackende Schwester Franziska (Franziska Hartmann) beschließt kurzerhand, dass sich Oliver und Alma, die seit Jahren kaum noch Kontakt haben, irgendwie zusammenraufen müssen, denn sie selbst lebt in Hongkong. Es gäbe zwar noch die Alternative, dass das Mädchen zu den Großeltern zieht, aber das lässt Franziska, die ihren Vater als "Diktator im Rollstuhl" bezeichnet, nicht zu; der Alte verbietet Oliver sogar, an der Beerdigung teilzunehmen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der erste Akt endet also mit dem Einzug der Tochter. Eine Tragikomödie würde sich nun nach der Devise "Besser zwei Väter als gar keiner" am bewährten Erzählmuster "Plötzlich Papa" orientieren. Alma leidet selbstverständlich unter dem Verlust der Mutter, aber immerhin findet sie Trost bei einem Mitschüler (Oskar Wohlgemuth). Die Eltern des ein Jahr älteren Johannes sind Zeugen Jehovas. Ihr prinzipientreues und scheinbar unerschütterliches Weltbild – inklusive einer strikten Ablehnung jedweder "obszöner Verirrung" – wirkt auf Alma in ihrem Ausnahmezustand geradezu verführerisch, und nun schlägt die Erzählung eine unerwartete Richtung ein: Oliver beginnt, eine intolerante und entsprechend unsympathische Seite zu offenbaren, was schließlich auch zu erheblichen Spannungen zwischen ihm und Felix führt. Dem Mädchen kommt das gerade recht. Die Handlung würde genauso funktionieren, wenn Oliver eine Freundin hätte, aber so bietet sich seine Homosexualität als willkommener Vorwand an. Es gelingt Alma tatsächlich, das Paar zu entzweien; schließlich wünscht sie sich sogar, dass Oliver völlig auf das Ausleben seiner sexuellen Orientierung verzichtet.
Anstelle von "Eine fremde Tochter" könnte der Film genauso gut "Mein fremder Vater" heißen, denn Alma ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Umso entscheidender war die Besetzung der weiblichen Hauptrolle, und in dieser Hinsicht ist Krohmer ein echter Glücksgriff gelungen. Hannah Schiller, mittlerweile Anfang zwanzig, war bereits in einem herausragend guten "Tatort" aus Dresden ("Parasomnia", 2020) als ein zwischen Traum und Wirklichkeit wandelndes Mädchen ein Ereignis (Wanja Mues spielte den Vater); Krohmers Film ist allerdings schon vorher entstanden. Zuvor hatte sie mit der Beziehungskomödie "Neid ist auch keine Lösung" (2015) auf sich aufmerksam gemacht, weil sie ihre Rolle als Filmtochter von Stefanie Stappenbeck und Matthias Koeberlin mit genau der richtigen Mischung aus typischem Teenager-Trotz und einer gewissen Exaltiertheit versehen hat. Unter Krohmers Regie beeindruckt sie vor allem durch ihre Natürlichkeit. Almas Verlegenheit in den Szenen mit dem ebenfalls ausgezeichnete Oskar Wohlgemuth wirkt ebenso wenig gespielt wie die schwierigen Momente, in denen die junge Schauspielerin Zorn, Trauer oder Verzweiflung verkörpern muss.
Mark Waschke wiederum, der auch als Hauptdarsteller in dem Nocke/Krohmer-Film "Mitte 30" mitgewirkt hat, ist mit seinem durchtrainierten Oberkörper schon rein physisch eine glaubwürdige Besetzung. Er sucht in seinen Rollen offenkundig ohnehin gern nach einer gewissen Ambivalenz; auch sein Berliner "Tatort"-Kommissar Karow ist ein eher unangenehmer Zeitgenosse.
Wanja Mues hat die vermeintlich einfachere Rolle: Im Gegensatz zu Oliver, der unter Arthrose leidet und seit seinem Rückzug aus dem Sport nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß, hat Felix seinen Platz im Leben gefunden, zumal er seine Homosexualität nie verstecken musste. Tatsächlich zeichnet ihn aus, was der Freund von sich nur behauptet: eine klare Haltung.
Die spiegelt der Film auch in anderer Hinsicht wider: Nocke hat die Beziehung der Männer ohne Anführungs- oder Ausrufezeichen inszeniert. Das gilt auch für die Sexszenen, die in dieser Form in einem Fernsehfilm noch vor einigen Jahren vermutlich nicht möglich gewesen wären.
Ein Dankeschön gebührt zudem Maja Schöne, die sich nicht zu schade für die winzige Rolle als Mutter war. Immerhin darf sie auch in den gelegentlichen Visionen Almas mitwirken, die Krohmer in das typische Licht eines Werbespots getaucht hat. Als Inspiration für dieses irdische Jenseits dienten ihm die biblischen Bilder aus den Broschüren der Zeugen Jehovas.