Zora Holt, die auch das Drehbuch zur sehenswerten letzten Episode aus der ZDF/Arte-Reihe "In Wahrheit" geschrieben hat ("In einem anderen Leben", 2021), führt im sechsten Fall für Judith Mohn (Christina Hecke) beide Dimensionen zusammen: In einem Fluss an der deutsch-französischen Grenze wird die Leiche eines Kollegen gefunden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
René Schubecker galt als vorzüglicher Polizist. Sein Aufstieg hat vor 15 Jahren begonnen, als er innerhalb weniger Tage den Mord an einer jungen Frau im Elsass aufklären konnte. Ein Foto, das Judith in seinen Sachen entdeckt, weist auf diesen alten Fall hin. Damals hat ein Mann nach stundenlanger Vernehmung die Tat zugegeben, sein Geständnis jedoch vor Gericht widerrufen. Letztlich ist er aufgrund scheinbar untrüglicher Indizien verurteilt worden. Seine vielen Anträge, das Ermittlungsverfahren wieder aufzunehmen, wurden abgelehnt; selbst die Aussicht auf Strafmilderung konnte ihn nicht dazu bewegen, das Geständnis zu wiederholen. Vor kurzem ist er todkrank entlassen worden.
Für Judiths Kollegen Freddy Breyer (Robin Sondermann) ist die Sache klar: Willy Voss (Andreas Anke) hat sich an dem Polizisten gerächt, der ihn damals ins Gefängnis gebracht hat. Mohn hingegen glaubt dem Mann, und als sie jenseits der Grenze in der Vergangenheit stöbert, stößt sie auf allerlei Ungereimtheiten: Offenbar haben sich die französischen Kollegen bei ihren Ermittlungen allein auf Voss konzentriert. Der Gendarmerie-Leiter (Robert Schupp) ist Schubeckers Vater und ohnehin wenig begeistert, dass die deutsche Kommissarin das Andenken seines Sohnes beschmutzen will.
Holt war auch die Autorin des kürzlich ausgestrahlten jüngsten Films aus der ZDF-Reihe "Unter anderen Umständen" ("Mutterseelenallein"). Dort resultierte die emotionale Spannung ebenfalls aus der persönlichen Betroffenheit der Teammitglieder. Hier ist es vor allem Breyer, der für Nähe sorgt, denn er war eng mit René befreundet. Außerdem macht er sich Vorwürfe, weil er keine Zeit für den Kollegen hatte, als der ihn kurz vor seinem Tod dringend sprechen wollte.
Auf diese Weise wird Voss zum zweiten Mal ein Opfer einseitiger Ermittlungen: Erneut scheint alles gegen ihn zu sprechen. Damals ist ihm zum Verhängnis geworden, dass die Polizei in seinem Auto das exakte Gegenstück zum Ohrring der toten jungen Frau gefunden hat. Ausgerechnet dieser scheinbar untrügliche Beweis bringt Judith der Wahrheit ein ganzes Stück näher, aber am Ende ist es ein Zufall, der das vermeintlich hieb- und stichfeste damalige Indiziengebäude in sich zusammenfallen lässt wie ein Kartenhaus.
Regie führte Miguel Alexandre, der bereits den 2017 ausgestrahlten Reihenauftakt inszeniert hat; "Unter Wasser" ist sein dritter Beitrag zu "In Wahrheit". Wie stets seit vielen Jahren hat er auch diesmal die Bildgestaltung übernommen, was seinen Arbeiten gerade wegen der Nähe zu den Mitwirkenden eine besondere Intensität verleiht.
Trotzdem lebt der Film vor allem von der Geschichte, die immer komplizierter wird. Anders als zuletzt, als der väterliche Ex-Kollege Zerner (Rudolf Kowalski) mehr Antagonist als Freund war, weil sich "In einem anderen Leben" als Rückblende entpuppte, kehrt der pensionierte Polizist diesmal wieder in seine ursprüngliche Rolle als Berater zurück. Auch Sondermann profitiert von Holts Drehbuch, denn Breyer wird in seiner Wut auf Voss blind für alternative Erklärungsmöglichkeiten, zumal er natürlich ebenfalls nichts auf den Freund kommen lassen will. Interessant besetzt sind auch die Nebenfiguren. Florian Anderer zum Beispiel, zuletzt schon eindrucksvoll als undurchsichtiger Polizist in einem "Tatort" aus Köln ("Vier Jahre"), spielt einen der französischen Kollegen, die der Wahrheit damals nachgeholfen haben.
Eine interessante Bereicherung des Ensembles ist Marijtje Rutgers als eifrige französische Kollegin. Die berührendste Rolle hat jedoch Andreas Anke, weil der gleich doppelt zu Unrecht beschuldigte Voss mehr und mehr zur tragischen Figur des Films wird. Er findet ein eindrückliches Bild für seine Lage: Wenn einem niemand die Wahrheit glaube, sei das "wie unter Wasser schreien".