Die zweite Regiearbeit der Schauspielerin Ina Weisse ist beileibe nicht der erste Film über den Karl Valentin zugeschriebenen Aphorismus, dass Kunst zwar schön sei, aber viel Arbeit mache; selten ist diese Erkenntnis jedoch derart radikal erzählt worden.
"Das Vorspiel" ist eine fesselnde Charakterstudie, die vor allem von der Hauptdarstellerin lebt. Nina Hoss verfügt über die Gabe, sich Rollen derart mit Haut und Haar anzueignen, dass von "Schauspiel" keine Rede mehr sein kann; sie scheint ihre Figuren zu leben, weshalb sich ihre Filme stets durch eine besondere Intensität auszeichnen. Das gilt auch für dieses Drama, dessen Titel fast zu schlicht ist für die verstörende Geschichte, die Weisse und ihre Koautorin Daphne Charizani erzählen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film beginnt mit der jährlichen Aufnahmeprüfung eines Musikgymnasiums. Geigenlehrerin Anna (Hoss) setzt sich gegen eine Kollegin (Sophie Rois) durch, die bei Alexander (Ilja Monti) erhebliche Schwächen sieht; Anna ist jedoch überzeugt, dass sich hinter den Fehlern des Jungen ein großes Talent verbirgt. Fortan steigert sie sich in eine regelrechte Besessenheit hinein, um dieses Talent zu entwickeln und zu formen. Der Junge macht große Fortschritte, aber Anna ist nie zufrieden. Als sie eines Tages übergriffig wird, kommt es beinahe zu einer Handgreiflichkeit zwischen Lehrerin und Schüler. Alexander schwänzt fortan ihren Unterricht. Am Tag des titelgebenden Vorspielens wartet sie mit bangem Herzen, ob er zu Prüfung erscheint.
Die Handlung konzentriert sich fast ausschließlich auf Anna, die Kamera (Judith Kaufmann) begleitet sie auf Schritt und Tritt. Das Drehbuch ist episodisch strukturiert und besteht gerade in der ersten Hälfte aus Momentaufnahmen, die sich schließlich zum Bild einer getriebenen Persönlichkeit verdichten. Weisse zeigt eine Frau, die ganz offenkundig ein Problem hat, wie eine Szene im Lokal verdeutlicht: Erst wechselt sie mehrfach den Tisch, dann kann sie sich nicht entscheiden, was sie essen soll; schließlich tauscht sie ihr Gericht gegen das des Gatten. Philippe (Simon Abkarian) ist Franzose und Instrumentenbauer, was dem Film einige interessante Facetten über dieses Metier beschert.
Eine Hommage an die Musik ist "Das Vorspiel" ohnehin, auch wenn Annas herrische Art vermutlich jedem jungen Talent die Freude am Musizieren austreiben würde. Wer je ein Instrument gelernt hat, weiß, dass Begabung allein bei weitem nicht genügt, aber Alexanders Lehrstunden bereiten beim Zuschauen fast körperlichen Schmerz. Es lässt sich kaum zählen, wie oft Anna "Noch mal!" sagt, wenn der bedauernswerte Junge immer und immer wieder dieselbe Passage wiederholen soll. Die Szene wirkt wie eine manische Variation von Samuel Becketts berühmten Zeilen aus dem Spätwerk "Aufs Schlimmste zu": "Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern."
Für die strenge und entsprechend anstrengende Lehrerin weckt Weisses Film auf den ersten Blick weniger Mitgefühl als für ihren Schüler, zumal die Regisseurin viel dafür tut, Anna als allenfalls bedingt sympathische Zeitgenossin zu schildern. Sie war einst ebenfalls eine vielversprechende Geigerin, aber ihre Gesundheit hat ihr einen Strich durch die Karriere gemacht. Ob die körperlichen Probleme psychische Ursachen haben, lässt das Drehbuch offen, doch die Vermutung liegt zumindest nahe. Ebenfalls nur angedeutet wird eine Affäre mit einem Kollegen (Jens Albinus), der Anna einlädt, sein Streichquartett zum Quintett zu ergänzen. Sie ist allerdings überzeugt, den Ansprüchen nicht zu genügen; beim ersten gemeinsamen Auftritt fliegt ihr der Bogen davon. Also projiziert sie ihren Ehrgeiz auf Alexander, aber weil sie darüber ihren eigenen Sohn vernachlässigt, kommt es schließlich zur Tragödie.
Die Umsetzung der Geschichte ist betont sachlich und entsprechend schnörkellos, doch die Leistungen der Mitwirkenden sind ausnahmslos sehenswert. Weisses Erstlingswerk ("Der Architekt", 2008) liegt bereits geraume Zeit zurück. Trotzdem ist die Besetzung gerade der zum Teil winzigen Nebenrollen verblüffend namhaft, darunter Thomas Thieme als Annas hartleibiger Vater oder Thorsten Merten als Kollege am Gymnasium. Alexander Hörbe war sich nicht zu schade, in der Restaurantszene den kernigen Kellner zu spielen. Unangefochtene Königin des Films ist jedoch Nina Hoss. Die mit allen wichtigen Film- und Fernsehpreisen geehrte Schauspielerin ist auch für diese Rolle bei mehreren Filmfestivals ausgezeichnet worden.