Er hat ein paar Jahre gebraucht, um sich an der Seite der Kollegin zu etablieren. Als sie schließlich den Polizeidienst quittierte, schien der Weg frei. Und jetzt das: Kaum ist die Frau weg, konfrontiert der RBB den deutsch-polnisch Ermittler Adam Raczek mit einem jungen Mann, der ausdrücklich für ein neues, ein "genderfluides" Männlichkeitsbild stehen soll: weil die Grenzen zwischen den Geschlechtern bei ihm verschwimmen.
Vincent Ross trägt anfangs eine Art Rock, scheint einen Kajalstift zu benutzen, hat einen lackierten Fingernagel und pinkelt im Sitzen. Im wahren Leben gab’s das alles schon in den frühen Achtzigern, aber dem RBB ging es offenkundig vor allem darum, Raczek einen Gegenentwurf gegenüberzustellen; und für den Sonntagskrimisendeplatz im "Ersten" ist das in der Tat eine neue Farbe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Besetzung ist ebenfalls interessant: Der Sender hat bewusst "fernab der bekannten TV-Gesichter" nach einem Schauspieler gesucht, der die Figur authentisch mit Leben füllen kann. André Kaczmarczyk ist zwar keine echte Entdeckung, hat im Fernsehen bislang jedoch noch nicht nennenswert auf sich aufmerksam gemacht; gut möglich, dass der attraktive Bühnenschauspieler dem "Polizeiruf" des RBB gerade beim jungen Publikum neuen Zulauf beschert.
Damit der Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren auch gut sichtbar wird, ist die Persönlichkeit seines Vorgesetzten zugespitzt worden. Als Raczek (Lucas Gregorowicz) zum Tatort kommt, schleppt er sich wie ein alter Mann die Treppe hinauf: Der Hauptkommissar kann nachts nicht schlafen und kommt morgens nicht aus dem Bett. Die chronische Erschöpfung bekämpft er mit Tabletten, die ihm Rechtsmediziner Kaminski (Tomek Nowicki) zusteckt. Im Vergleich zu dem energiegeladenen Neuling wirkt Raczek mitunter wie ein Wrack.
Zu allem Überfluss verpasst Ross dem Kollegen dank seines Bachelors in Psychologie auch noch eine Schnellanalyse: geschieden, kein Kontakt zu den Kindern, wenig Freunde, sexuell nicht ausgelastet. Der junge Mann ist selbstredend nicht nur Vegetarier, sondern auch "woke" und reagiert daher äußerst sensibel, wenn sich Raczek mal wieder einer unangebrachten Wortwahl bedient, weshalb ihm der Chef unmissverständlich klarmacht, wer hier das Alphatier ist: "Schweigen, zuhören, lernen". Dass er Ross schließlich sogar an die Gurgel geht, wirkt allerdings etwas übertrieben.
Wenn sich ein Krimi derart innig den Hauptfiguren widmet, bleibt erfahrungsgemäß nicht mehr viel Raum für die Ermittlungsebene. Dass das keineswegs so sein muss, hat Eoin Moore (Buch und Regie) 2010 mit der Einführung des Rostocker "Polizeiruf"-Duos bewiesen. Kein Wunder, dass ihm der RBB auch den Neustart der Filme aus ?wiecko übertragen hat (Koautorin: Anika Wangard).
Die Krimihandlung von "Hildes Erbe" lebt allerdings vor allem von den Mitwirkenden, denn der Fall als solcher ist recht überschaubar: Kaum hat Ross seine neue Wohnung bezogen, wird ein junger Nachbar umgebracht. Die Spur führt zur Großmutter, deren Rolle für Tatja Seibt garantiert ein großes Vergnügen war: Hilde Grutzke, eine Frau, die kaum noch Luft bekommt, aber trotzdem raucht, entpuppt sich als Tyrannin, die an niemandem ein gutes Haar lässt; außer an ihrer Altenpflegerin (Isabel Schosnig). Für ihren Sohn Ulf (Lars Rudolph) hat sie nur Verachtung übrig, und dass ihr Enkel zuletzt auffallend oft vorbeigeschaut hat, führt sie aufs zu erwartende Erbe zurück.
Die Familienmitglieder sind allesamt etwas überzogen, was dem Drama gewisse tragikomische Züge verleiht. Das gilt vor allem für den Sohn, den Lars Rudolph regelrecht in Selbstmitleid baden lässt. Der Hintergrund ist allerdings kein bisschen witzig: Ulf hat vor vielen Jahren einen Unfall verursacht, unter dessen Folgen Tochter Emma (Ada Philine Stappenbeck) bis heute leidet. Den Vater hat der Vorfall völlig aus der Bahn geworfen, er war erst im Gefängnis und dann auf der Straße. Seine wiederentdeckte Mutterliebe dürfte nicht zuletzt mit den 800.000 Euro zu tun haben, die Hilde in zwei Plastiktüten aufbewahrt, seit von ihrem Konto ein paar tausend Euro verschwunden sind.
Zum Konzept des Neustarts gehörte offenbar auch der Vorsatz, den weiteren Mitgliedern der Ermittlergruppe größeren Spielraum zu geben, was dem Film einige heitere Momente beschert; wie Kaminski am Tatort den Tod des Opfers rekonstruiert, ist ein darstellerisches Kleinod. Angesichts der redaktionellen Absicht, klassische Rollenbilder zu hinterfragen ("Wann ist ein Mann ein Mann?"), fällt allerdings umso deutlicher auf, dass es sich um einen reinen Männerbund handelt; dieses Team braucht dringend weibliche Verstärkung.